Leise
rieselt der Schnee,
still und starr ruht der See,
weihnachtlich glänzet der Wald,
freue dich, Christkind kommt bald.
Bei diesem Lied wussten wir: „Jetzt ist Advent.“ Aus Tannengrün
legten wir auf dem Tisch einen Kranz und verteilten vier rote
Kerzen darauf. An jedem Adventssonntag wurde abends eine neue
Kerze angezündet und Adventslieder gesungen.
In den Straßen der Stadt gab die nur sparsame Beleuchtung noch
keinen Hinweis auf das bevorstehende Weihnachtsfest.
Straßendekorationen gab es erst viele Jahre später, nach dem
Zweiten Weltkrieg.
Die Dekoration der Schaufenster war nicht aufwändig, aber
zweckmäßig. In den Schaufenstern wurden all die begehrenswerten,
schönen Dinge gezeigt, die vorrätig waren; ein Warenlager gab es
selten. Was verkauft wurde, nahm man aus dem Fenster. Bis
Weihnachten leerten sich die Schaufenster.
Wir Kinder schrieben natürlich einen Wunschzettel an das
Christkind im Himmel und legten ihn in den Briefkasten. Unserer
kindlichen Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Ich bin in
einer Lehrerfamilie mit fünf Kindern aufgewachsen. Unsere Mutter
erledigte mit geheimnisvoller Geschicklichkeit all die
Vorbereitungen für das Fest. Nach einem Einkauf huschte sie
schwer
bepackt an uns vorbei und verschwand im Schlafzimmer. Dieser
Raum war für uns tabu.
Wir Kinder bastelten viele Weihnachtsgeschenke in der
Adventszeit.
Unsere selbstgemachte Krippe war eine Laubsägearbeit in Form
eines Trypticons (ein dreiflügeliges Bild), an der wir jedes
Jahr wieder Freude hatten.
Die Familienkrippe hatte Figuren aus Stein. Sie wurde schon
einige Tage vor Weihnachten von uns Kindern mit Moos und
Tannengrün auf dem Klavier aufgebaut. Natürlich ohne das
Jesuskind. Es musste ja noch geboren werden. Auf geheimnisvolle
Weise lag es dann zur Bescherung am Weihnachtsmorgen in der
Krippe.
Wenn wir Jüngeren mit sehnsüchtigen Augen sangen: „Einmal werden
wir noch wach, heißa dann ist Weihnachtstag“, dann war der
Heilige
Abend
gekommen. Vor dem „frühen“ zu Bett gehen stellten wir unseren
Teller im Esszimmer auf den gedeckten Tisch. Unser Vater schrieb
mit schöner Schrift die Namen der Kinder auf einen Zettel, den
wir dann auf unsere Teller legten. Wenn alle Kinder schliefen,
konnte Vater den im Keller versteckten Tannenbaum heraufholen
und ihn mit Kerzen und Lametta, süßen Figuren, Plätzchen und
roten Äpfeln schmücken. In späteren Jahren bekamen wir auch
silberne Kugeln und das Holzspielzeug vom Winterhilfswerk für
den Baum.
Nach alter Tradition begann das hochheilige Weihnachtsfest
frühmorgens um 5 Uhr mit der „Ucht“. Das ist der westfälische
Name für die Christmette. Schon ab halb fünf hörten wir die
ersten Kirchenbesucher herbeiströmen. Die Kirche war schnell
überfüllt, deshalb durften wir mit unserem Vater auf die
Orgelbühne. Vater musste an Festtagen in drei Gottesdiensten die
Orgel spielen. Wir waren stolz, wenn um Schlag 5 Uhr Vaters
brausendes Orgelspiel die Kirche mit Weihnachtsjubel erfüllte.
Ich glaube, allen Gläubigen in der Kirche ging das Herz auf beim
Singen des Liedes „Stille Nacht, heilige Nacht“.
Dieser festliche Gottesdienst dauerte sehr lange. Am Hauptaltar
und an beiden Seitenaltären wurden in den prachtvollen
Weihnachtsgewändern Heilige Messen gelesen. Jeder Katholik war
verpflichtet, am Weihnachtsfest drei Heilige Messen „mit Andacht
zu hören“.
Bei uns Kindern wuchs die Spannung auf die Bescherung, sodass
wir nach dem letzten Segen schnell nach Hause liefen – auch,
weil es in der Kirche sehr kalt war. Unsere Mutter hatte in der
Zwischenzeit eine Weihnachtswohnung gezaubert. In der Küche war
es schön warm, die Herdplatte glühte. Der Tisch war für das
Weihnachtsfrühstück gedeckt.
Mit
großem Jubel und „Frohe Weihnacht“ wurde jeder begrüßt. Ich
glaube, wir Kinder waren in unserer Spannung kaum zu ertragen.
Mutter hatte die Öfen in den Zimmern angeheizt. Endlich
verschwand unser Vater ins Weihnachts-zimmer. Wir Kinder
stellten uns auf, die Jüngste zuerst, und warteten auf das
Schellen. Wenn Vater die Tür weit öffnete, zogen wir singend vor
den Weihnachtsbaum. Alle Kerzen brannten. Es duftete köstlich
nach Weihnachtsplätzchen.
Die Weihnachtsgeschichte wurde verlesen, und jedes Kind trug ein
Gedicht vor oder spielte auf dem Klavier oder der Geige. Unser
Blick ging allerdings immer wieder zum Gabentisch, bis wir
endlich zu unserem Platz gehen durften. Die Kleinen fanden ihre
geliebte Puppe wieder, die vor Wochen auf geheimnisvolle Weise
verschwunden war. Jetzt hatte sie neue Kleider, und das kaputte
Auge war auch wieder gesund. Sogar ein neuer Puppenwagen war
dabei oder eine Puppenstube mit Balkon. Die größeren Kinder
spielten das neue Quartett, und meine Schwester Clementine las
schon in ihrem Buch, das sie sich so sehr gewünscht hatte.
Die Weihnachtsteller waren reich gefüllt mit selbst gebackenen
Plätzchen, Nüssen, einem schönen Apfel, später sogar Feigen oder
Datteln und eine Apfelsine, uns bis dahin unbekannte Früchte.
Man aß wenigstens drei Tage lang von einer Apfelsine. Die ersten
Apfelsinen waren noch ziemlich sauer, darum stellte Mutter uns
eine Untertasse mit Zucker hin. Jedes Apfelsinenstückchen wurde
in Zucker gedreht und mit Genuss verspeist.
Als später jedes Kind eine ganze Tafel Schokolade auf seinem
Teller fand, fühlten wir uns sehr reich, denn eine Tafel
Schokolade kostete mehr als fünf Mark.
Die Freude und Begeisterung aus diesen Jahren bleiben mir
unvergesslich.
Nach der Bescherung waren wir gespannt, was unsere Freundinnen
vom Christkind bekommen hatten. Mit meiner Schwester Maria
rannte ich über den Wilhelmsplatz zu Kathrinchen. Dort
bestaunten wir zuerst die Krippe, die von den großen Brüdern
aufgebaut worden war. Sie füllte ein Drittel des
Weihnachtszimmers aus und war mit Wasserfall, Seen, Gräben,
Bergen und vielen Tieren ausgestattet.
Am
zweiten Weihnachtstag besuchten viele Familien beim
Sonntagsspaziergang die drei Kirchen der Stadt. Nicht nur für
die Kinder war die „Paterskrippe“ im Franziskaner Kloster
besonders schön. Sogar der heilige Franziskus mit dem Vögelchen
auf der Schulter schaute von der Seite her zu. Man erzählte uns,
er habe die erste Krippe aufgebaut. Jeder von uns warf einen
Groschen in die Sammelbüchse des Negerkindes und freute sich,
wenn es zum Dank nickte.
Es war üblich, an den folgenden Sonntagen nach Einbruch der
Dämmerung befreundete Familien zum „Krippkes bekieken“ zu
besuchen und am „brennenden“ Tannebaum (so sagte man, denn es
gab nur echte Kerzen am Baum) zu singen und Weihnachtsgedichte
aufzusagen. Zur Belohnung durften die Kinder etwas Süßes vom
Tannenbaum nehmen. Ein besonderes Erlebnis war der Tannenbaum
bei Rieländers. Sie hatten einen drehbaren Christbaumständer mit
einer eingebauten Spieluhr, die „Vom Himmel hoch, da komm ich
her...“ spielte. Wir konnten um den rundum geschmückten Baum
herumtanzen. Wenn der Tannenbaum nadelte, durfte alles Essbare
„geplündert“ werden.
Das war das Ende der wunderschönen Weihnachtszeit.
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke wurde 1912 in
Warendorf geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier
Geschwistern auf. Im Alter von 90 Jahren begann sie,
Erinnerungen aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre
aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103 Jahren.
Bilder: Archiv der Altstadtfreunde Warendorf