Erlebte Geschichte in Warendorf
Die Apfelernte an der Chaussee nach Klauenberg
von Eugenie Haunhorst 

Bald ist es wieder soweit und die ersten Äpfel können geerntet werden. Dann erinnere ich mich mit Vergnügen an die Apfelernte in meiner Jugend. Schon beim Anblick der wunderschön blühenden Apfelbäume im Frühjahr strahlten die Au­gen meines Vaters. Er freute sich an dem weißen Blütenmeer, das eine reiche Apfelernte versprach.

Wir hatten in unserem Garten nur einen Apfelbaum, das war viel zu wenig für die große Familie. Darum verfolgte Vater mit großem Interesse das Gedeihen der Äpfel an den Chausseebäumen. Neben der Landstraße von Warendorf nach Klauenberg verlief an der Südseite die Eisenbahnstrecke, die Nordseite war mit Apfelbäumen bepflanzt.

Nach dem 1. Weltkrieg, also in den 1920er Jahren, waren wir Nutznießer dieser sehr klugen Bepflanzung der Landstraße mit Apfelbäumen der verschiedensten Sorten, die ohne Pflegeschnitt im Wildwuchs üppig wuchsen und reiche Ernte trugen. Diese Apfelbäume wurden von der Kreisstraßenbauverwaltung in Warendorf zur Zeit der Reife versteigert. Vorher war das Pflücken streng verboten. Äpfel aufsuchen durfte man allerdings. Hatte es kurz vor der Ernte in der Nacht gestürmt, weckte uns unsere Mutter um 6 Uhr in der Früh und mein älterer Bruder Otto und ich fuhren dann eilig in Richtung Klauenberg, mit großen Taschen an den Fahrrädern. Wir mussten früh da sein, denn viele Leute nutzten diese gute Gelegenheit der Fallobsternte. An einem „guten Baum“ – wir wussten genau, wo die leckeren Äpfel wuchsen – füllten wir schnell unsere Taschen und radelten schwer bepackt wieder heim. Zu Hause war dann nur noch Zeit für ein eiliges Frühstück, denn wir durften nicht zu spät zur Schule kommen.

Sehr spannend war es, wenn endlich der Tag der Apfelbaum-Versteigerung gekommen war. Viele Warendorfer versammelten sich dann an der Klauenberger Chaussee. Unser Vater ersteigerte immer einen ganzen Block, etwa vier bis fünf Bäume. Wenn er Glück hatte, bekam er die Bäume mit den „guten Äpfeln“. Boskop war besonders beliebt, denn diese Äpfel konnte man – leicht angeschrumpelt - bis Ostern lagern.

Die ersteigerten Bäume mussten am gleichen Tag abgeerntet werden, denn am nächsten Tag wurden alle Apfelbäume zum Ernten für jedermann freigegeben. Also beluden wir nach dem Mittagessen den Bollerwagen mit einer Leiter, zwei Apfelpflückern und großen Taschen. Zwei Kinder zogen den Bollerwagen über die Landstraße nach Neu-Warendorf, die anderen kamen mit den Fahrrädern. Gut, dass wir fünf Kinder hatten, jetzt wurde jede helfende Hand gebraucht.

Hatten wir die für uns markierten Bäume gefunden, ging es eifrig ans Pflücken und Aufsuchen. Die Pflückäpfel packten wir vorsichtig in den Bollerwagen, die Falläpfel kamen in die Taschen.Zur Kaffeezeit kam unsere Mutter mit dem Fahrrad und brachte uns Reibekuchen und Saft, ein wohlverdienter Schmaus.

Waren unsere Bäume abgeerntet, zogen wir mit dem hochgefüllten Bollerwagen und den schweren Taschen am Fahrrad gen Heimat. Wir hatten einen anstrengenden, aber einträglichen Erntenachmittag gehabt und waren redlich müde. Aber zu Hause mussten erst die Äpfel im kühlen Keller vorsichtig in die Apfelregale gelegt werden und wir mussten aufpassen, dass sie kleine Druckstellen bekamen, denn dann faulten sie leicht. Nach getaner Arbeit waren wir stolz, für einen reichhaltigen Wintervorrat gesorgt zu haben.

Mutter kontrollierte die Äpfel jeden Tag und sortierte die angefaulten heraus. Die wurden sofort zu Apfelmus verarbeitet und zu jedem Mittagessen stand frisches Apfelkompott auf dem Tisch und sonntags gab es natürlich einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Ja, Äpfel waren ein wichtiges und preiswertes Lebensmittel der damaligen Zeit.

Durch seine gute Lagerfähigkeit war der Apfel im Winter der wichtigste Vitaminspender. „An apple a day keeps the doctor away!“ diesen englischen Spruch kannten wir damals schon.

 

Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf. Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103 Jahren.

 

Erlebte Geschichte in Warendorf
Die Flussbadeanstalt in Warendorf
von Eugenie Haunhorst

 

 

„So läuft sie denn seit Jahrhunderten durch das weite Land, die gute alte Ems. Auch an der Stadt Warendorf fließt sie vorüber und hat immer regen Anteil am Leben der Stadt genommen. Ja, sie prägte unser Stadtbild.“ So schrieb Paula Telker, Tochter des ersten Bademeisters Josef Telker.

Die Ems bot früher den Bewohnern der Stadt Warendorf die einzige Möglichkeit, sich an heißen Tagen durch ein kühles Bad zu erfrischen. Baden oder sogar schwimmen im Fluss war jedoch sehr gefährlich, denn die Untiefen der Ems wechselten nach jedem Hochwasser.
Auch Kahnpartien waren sehr beliebt. So starteten 1882 einige junge Männer zu einer Bootsfahrt von Warendorf nach Telgte. Es ging um eine Wette. Nach 3,5 Stunden hatten sie Telgte erreicht und die Wette gewonnen. Beim Gang durch die Stadt erblickten sie ein Schild mit der Aufschrift:
„Aktion Badeanstalt Telgte“ Man war begeistert von der Idee. Was die Telgter können, müsste den Warendorfern auch gelingen. Es wurde viel diskutiert, dafür und dagegen. Ein ganz Altkluger meinte:

„ Jäe, jäe! Laot dat Water ut den Buuk un den Buuk ut dat Water“.
(Ja, ja, lass das Wasser aus dem Bauch und den Bauch aus dem Wasser.)

Heimatverein Warendorf: Die Warendorfer Flussbadeanstalt 1886Der wohlgemeinte Rat wurde nicht befolgt. In der Stadt wohnte der Rentner Oskar Eylardi. Er war ein aufgeschlossener Mann und hatte für gemeinnützige Angelegenheiten ein offenes Ohr. Es gelang ihm eine „Warendorfer Badeanstalt AG“ zu gründen. So kam die Sache in Schwung.

Die Badeanstalt sollte in die Ems gebaut werden, oberhalb der Stadt an der Klosterpromenade in der Nähe des Bentheimer Turms, wo heute das Marienheim steht. Es wurde eine Floßbadeanstalt geplant, ein auf Tonnen schwimmender Bretteraufbau. Die Firma Ahmerkamp wurde mit den Bauarbeiten betraut. Am 13.Juni 1886 konnte die Floßbadeanstalt feierlich eröffnet werden.
Trotz aller Unkenrufe hieß es nun:

Laot dat Water ut den Buuk
un den Buuk ut dat Water.
De Düwel hal dat aolle Gequater!
Water von innen un buten hölt jung.
Harin in de Iemse met frisken Sprung.
Doch miärk: Hier wet kien Undocht driewen,
süß wett ju dat Fell afriewen.

Lass das Wasser aus dem Bauch
und den Bauch aus dem Wasser.
Der Teufel hole das dumme Gerede.
Wasser von innen und außen hält jung.
Herein in die Ems mit frischem Sprung.
Doch merkt, hier wird kein Unsinn getrieben,
sonst wird Euch das Fell abgerieben.


So ging der Badebetrieb los. Josef Telker wurde erster Bademeister und sorgte für die nötige Ordnung und das Wohl seiner Badegäste. Seine Frau half ihm dabei. Herr Telker hatte während seiner Militärzeit bei den 13ern in Münster seine Schwimmmeister-Prüfung abgelegt. Vielen Warendorfern hat er die Schwimmkünste beigebracht.

Wie sah die Badeanstalt aus?
Sie schwamm auf Tonnen, die zwischen Balken festgehalten wurden. Das gesamte Floß war mit Ketten zu beiden Seiten am Ufer der Ems befestigt. Das Bassin war der Mittelpunkt der Anlage und wurde von den Ankleidezellen umgeben. Durch Holzgitter floss das Emswasser in das Bassin. Für die Freischwimmer öffnete sich an der Ostseite eine große Tür zur freien Ems. Rote Fähnchen am Ufer steckten die Grenzen für die Freischwimmer ab, wenn auch mancher Schwimmer in Versuchung kam, etwas weiter um die Ecke zu schwimmen.

Es gab neben dem großen Schwimmbecken noch einzelne kleine Badekabinen. Sie lagen am Ende des schwankenden Holzsteges. Da ein Badezimmer in der Wohnung noch eine große Seltenheit war, erfreuten sich die Badekabinen großer Beliebtheit. Meine Mutter hat mich als kleines Mädchen oft mitgenommen in dieses Reinigungs- und Erfrischungsbad. Der kleine Raum hatte bis zur Hälfte einen Bretterboden mit einer Sitzbank, auf der man auch die Kleider ablegte. Über eine steile Leiter stieg man in das Emswasser und stand auf einem Holzboden. Frisches Wasser floss ständig durch die Holzlatten. Beim ersten Mal rutschte ich auf dem glatten Holz aus und lernte das Wasser von unten kennen. Mutter zog mich schnell hoch. Der Schrecken war groß, konnte aber meine Freude am Plantschen im Wasser nicht trüben. Vergessen habe ich diesen Schreck nie.

Die Badezeiten waren streng geregelt. Herren- und Damenbaden wechselten sich ab.
Die Badefreudigkeit der Jugend war besonders groß. Die Mädchen durften von 2 bis 4 Uhr baden, von 4 bis 6 Uhr waren die Jungen an der Reihe. Schon lange vor 2 Uhr standen wir Mädchen vor dem verschlossenen Badeanstaltstor in der Promenade, bis der Bademeister mit dem Schlüssel kam. Wenn Vater Telker oder auch seine Frau in Sicht waren, teilte sich die Mädchenschar und bildete eine Gasse. Frau Telker war immer dunkel gekleidet, trug einen langen Rock und mit einer Schürze. In unseren Augen war sie eine sehr alte Frau. Am Arm hatte sie ein Körbchen mit der Kaffee-Mahlzeit.
Wie der Sturmwind sausten wir in die Umkleidekabinen und dann ins Wasser. Wir wollten keine Minute vergeuden. Zwei Stunden vergingen schnell.
Heimatverein Warendorf: Spielplatz der Warendorfer Flussbadeanstalt um 1920Die meisten Kinder lernten Schwimmen ohne offizielle Anleitung. Es gehörte einfach dazu wie das Radfahren. Unserem Vater - er war Lehrer an der Münsterwallschule - war es aber eine wichtige Aufgabe, den Schülern im dritten und vierten Schuljahr das Schwimmen beizubringen. Die Warendorfer Kinder spielten nämlich gern in der Nähe der Ems, und leider ertranken immer wieder Kinder in dem tückischen Fluss. Die wechselnden Tiefen der Ems waren eine große Gefahr für die Nichtschwimmer.
Im Sommer wurde die Sportstunde ins Freibad verlegt. Vater trug dann einen ganz modernen Badeanzug aus schwarzer Wolle, ähnlich wie ihn die Damen trugen, nur ein Träger wurde über die Schulter gelegt, der andere fiel locker herunter. So war es schick in den Zwanziger Jahren.
Der Aufbau der Floßbadeanstalt im Frühjahr und der Abbau im Herbst verursachten jedes Jahr große Kosten. Nach 40jährigem Betrieb der Floßbadeanstalt suchte man eine nicht so aufwändige Lösung.

Die neue Flussbadeanstalt
Am 14. April 1926 wurde die neue Flussbadeanstalt eröffnet. Bademeister Telker und seine Frau feierten gleichzeitig ihr 40-jähriges Dienstjubiläum. Ihnen war es zu verdanken, dass in all den Jahren kein Unglücksfall in der Emsbadeanstalt Heimatverein Warendorf: Warendorfer Flussbadeanstalt - Sprungbretter um 1926vorgekommen war.
In der neuen Badeanstalt waren die Ankleidezellen nun um eine Liege- und Spielwiese herum gebaut. Das Bassin wurde in das Ufer gemauert, nur die Emsseite hatte ein Holzgitter zum Einlass des Wassers. Mit einem dicken Seil war das Becken für Nichtschwimmer und Schwimmer geteilt, der Zementboden war entsprechend schräg gebaut.  Neben dem Becken führte eine Treppe in die freie Ems. Man musste einen Freischwimmschein vorweisen können, um in der „ freien Ems“ schwimmen zu dürfen. Die Freischwimmer durften auch die Sprungbretter benutzen und einen „ Köpper“ vom Ein-Meter-, Zwei-Meter- oder Drei-Meter-Brett machen. Mitten in der freien Ems lag ein langer, glatter Baumstamm verankert. Mit all diesen Möglichkeiten war das Baden ein großes Vergnügen für Jung und Alt.


Eine Neuerung sorgt für Unruhe in der Bevölkerung: Unsere Badeanstalt wurde zum Familienbad. Das Baden nach Geschlechtern getrennt hatte ein Ende. Jetzt konnten endlich die Familien gemeinsam zum Schwimmen gehen. An heißen Sommertagen gab es so Heimatverein Warendorf: Warendorfer Flussbadeanstalt 1926viele Badefreunde, dass auf der Liegewiese kaum ein freier Platz zu finden war. Sorgen machte die zunehmende Verschmutzung des Emswassers. In früheren Jahren konnten wir den Stein, nach dem wir tauchen wollten, auf dem Grund der Ems liegen sehen.
Bis 1933 sorgte das Ehepaar Telker für Ordnung in der Flussbadeanstalt, wegen des großen Andrangs mit Hilfe von Tom Schmillenkamp, der nach dem Tod von Josef Telker neuer Bademeister wurde.

In der Kriegs- und Nachkriegszeit wurde unser Freibad unter wechselnder Leitung geführt. Viele Warendorfer erinnern sich lebhaft an die Bademeister Bernhard Kieskemper, Lörchen und Otto Kamphans. Über 70 Jahre lang hat die Flussbadeanstalt vor allem der Warendorfer Jugend in den Sommermonaten viel Freizeitspaß gebracht. Die Ems lieferte unermüdlich und kostenlos frisches Wasser.

1956 war dann das Baden im Flusswasser nicht mehr zeitgemäß und die Flussbadeanstalt wurde geschlossen. Die Stadt Warendorf errichtete 1959 auf der anderen Emsseite ein modernes Freibad.

Den Mitgliedern der „Warendorfer Badeanstalt-Aktien-Gesellschaft“ ist es zu verdanken, dass Warendorf schon frühzeitig einen geregelten Badebetrieb hatte. Seit 1919 war Hermann Josef Brinkhaus ihr rühriger, langjähriger Vorsitzender.
Heimatverein Warendorf: Flussbadeanstalt - BadevergnügenErst 1936 übernahm die Stadt die Warendorfer Badeanstalt AG.
Die Warendorfer Bürger haben diesem tatkräftigen Vorstand auch die Einrichtung einer Warmwasser-Badeanstalt zu verdanken. Es gab damals in den Häusern nur wenige Badezimmer, darum war es wichtig, auch im Winter öffentliche Bademöglichkeiten anzubieten.

1909 wurde an das Wohnhaus der Familie Telker im Zuckertimpen 14 eine kleine Warmwasser - Badeanstalt angebaut. Die Anlage bot vier Wannenbäder und sechs Duschen an. Sie war ganzjährig geöffnet, außer im Hochsommer.
Mein Vater nahm oft ein Wannenbad, wir Kinder begnügten uns mit der Dusche, das war billiger.
Im Herbst 1936 wurde diese Einrichtung geschlossen. Die Stadt verlegte die Warmwasser-Badeanstalt in die Volksschule an der Klosterstraße. Bis in die 50er-Jahre wurde diese Einrichtung rege genutzt, gemeinsam mit der Jugendherberge, die auch im Keller der Schule untergebracht war.

  

Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf. Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103 Jahren.


 

Bilder: Archiv der Altstadtfreunde Warendorf

Erinnerungen an Clara Schmidt und die Frauenliste am 5. Mai 2024 um 15 Uhr
Galerie Heinrich Friederichs an der Oststraße 21
Eine Jubiläumsfeier des Heimatvereins zu „100 Jahre Frauenliste in Warendorf“.
von Mechtild Wolff

Man könnte auch sagen: 100 Jahre erfolgreicher Wahlkampf der politisch engagierten Frauen in Warendorf oder plakativ ausgedrückt: 100 Jahre Suffragetten in Warendorf. Es ist eine Erinnerung an die Pionierin Clara Schmidt und eine Würdigung für sie und all ihre Mitstreiterinnen. Diese mutigen Frauen fanden Beachtung in ganz Deutschland und sogar im Ausland, denn es war der erste parlamentarische Erfolg einer Frauenliste. Und all das kam aus dem kleinen Warendorf!!!

Die Galerie Heinrich Friederichs hier ist nicht nur ein wunderschönes Ambiente, sondern auch ein Bürgerhaus, ein Poalbürger-Haus, das viel Warendorfer Geschichte miterlebt hat. Ja, hier hat vor 100 Jahren so manche Diskussion um die Frauenliste stattgefunden, denn dieses Haus an der Oststraße 21 gehörte der Rechtsanwaltsfamilie Enders. Dr. Josef Enders und später sein Sohn Theo Enders und der Enkel Wolfram Enders hatten hier in den unteren Räumen ihre Anwaltskanzlei und wohnten oben mit ihren Familien. Laura Enders (1889-1964), die Frau des Seniors Dr. Josef Enders, war eine engagierte und politisch interessierte Bürgerin, die das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Sie empörte sich 1924 sehr darüber, wie unfair die Frauen behandelt wurden, für die „Frauenliste“ kandidierten. Darum unterstützte sie diese mutigen Wahlkämpferinnen und machte auch Wahlkampf für die Frauenliste. Natürlich kannte sie Clara Schmidt aus der Nachbarschaft gut, ja sie war sogar weitläufig mit ihr verwandt. Viele Jahre später, erst in den 1950er Jahren schrieb sie ihre Erinnerungen an diese turbulente Zeit auf und veröffentlichte die schöne Geschichte „Die Amazonenschlacht in Warendorf“ im Frauenbundheftchen. Dadurch ließ sie einen wichtigen und auch höchst amüsanten Teil der Warendorfer Politik-Geschichte lebendig werden. Ich bin auf Clara Schmidt und die Frauenliste durch dieses kleine Heft gestoßen, das ich eines Tages von meiner Mutter geschenkt bekam. Ein eher unscheinbares Schulheft, das es aber in sich hat, denn hier hat Clara Schmidt alle Zeitungsberichte des aufregenden Wahlkampfes von 1924 eingeklebt und hier hat sie ihre Kommentare aufgeschrieben.  „Sie nannte es selbst: „Dokumente zur Stadtverordnetenwahl in Warendorf im Jahre des Heils 1924 am 4. Mai.“

Dieses Heft übereignete Clara Schmidt ihrer Nichte Maria Stieve, die 1944 ihre Nachfolgerin als Vorsitzende des Frauenbundes geworden war. Die wiederum schenkte diese historische Dokumentation in den 1960er Jahren ihre Nichte Margret Stieve, die nun Vorsitzende des Frauenbundes war und mit meiner Mutter Eugenie Haunhorst zusammen eine der wenigen Frauen im Rat der Stadt Warendorf war. Margret Stieve war unverheiratet und kinderlos, darum übergab sie das Heft zu treuen Händen an meine Mutter, die es dann mir vermachte. So kam ich an die vielen authentischen Informationen zu Clara Schmidt und der „Frauenliste.“

Schön, dass Dr. Bernward Fahlbusch auch heute hier ist. Er hat uns dieses schöne Bild von Clara Schmidt zur Verfügung gestellt, denn auch er ist weitläufig verwandt mit Clara Schmidt und wird uns später mehr über die familie von Clara Schmidt und ihre Anbindung an das politische Geschehen in Preußen erzählen.

 

Nun aber zu Clara Schmidt und der Frauenliste

Was war denn die Frauenliste und warum war sie solch eine politische Sensation?

Die Zeiten damals Anfang des 20. Jahrhunderts sind mit der heutigen Zeit nicht vergleichbar. Heute ist es normal, dass Frauen sich in der Politik engagieren, dass Frauen in der Politik Führungspositionen einnehmen, dass Frauen Bürgermeisterinnen, Ministerpräsidentinnen  und  Ministerinnen und sogar Bundeskanzlerin werden.

Ehe Frauen diese Rechte bekamen, mussten sie einen langen Kampf kämpfen. Auch in Warendorf, ja, vielleicht gerade hier in Warendorf.


Warendorf war damals ein kleines Landstädtchen mit etwa 8000 Einwohnern, das in der Zeit der Leinenweberei seine Blütejahre erlebt hatte. Ab 1830 aber konnte das Leinen billiger aus England gekauft werde, weil es dort schon auf mechanischen Webstühlen gewebt wurde. Das hatte zur Folge, dass die Warendorfer Weber nicht mehr von ihrem Weberhandwerk leben konnten und sich auch hier Armut und Elend breit machte. Erst als Hermann Josef Brinkhaus und Eduard Wiemann eine mechanische Weberei eröffneten, gab es wieder Arbeitsplätze und viele Menschen kamen in Lohn und Brot. Weitere Textilbetriebe siedelten sich an und brachten Handel und Gewerbe wieder auf Schwung – jetzt profitierten auch die Bäcker, Metzger, Schreiner und die vielen kleinen Geschäfte. Warendorf wurde wieder zu einem geachteten Städtchen mit einem soliden Wohlstand und geordneten Verhältnissen. Die Rangordnung in der Gesellschaft war ja schon seit Generationen festgezurrt: Der Mann war der Organisator des Lebens und verdiente das Geld, die Frau war seine Hilfe, organisierte den Haushalt und sorgt für die Kinder. Sie packte überall mit an.   

X Es wurde von einer Frau erwartet, dass sie die Rolle der Hausfrau und Mutter perfekt ausfüllte. Das war damals noch wesentlich schwieriger, denn die Familien waren groß, acht Kinder waren keine Seltenheit. Einen Haushalt zu führen war arbeitsintensiv und zeitaufwändig. In Warendorf gab es erst seit 1907 fließendes Wasser und erst seit 1920 versorgte das neue E-Werk die Stadthaushalte mit elektrischem Strom. Endlich waren die Zeiten der Petroleum- und Gaslampen vorbei, aber an eine Waschmaschine oder eine Spülmaschine war noch nicht zu denken und ein Kühlschrank war ein unerreichbarer Luxus.

Außerdem war fast jeder Haushalt Selbstversorger. Obst, Gemüse und Kartoffeln kamen aus dem eigenen Garten und die oft überreiche Ernte musste in mühevoller Arbeit in Einmachgläsern eingekocht werden, damit die Familie auch im Winter versorgt war. All das war unendlich viel Arbeit, die von der Hausfrau, oft unter Mithilfe der Kinder, geleistet werden musste. Diese Frauen konnten an außerhäusliches Engagement gar nicht denken.

Anders war es schon bei den Geschäftsfrauen, deren Aufgabe es war, die Arbeit ihres Mannes in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Bei einem Ladengeschäft hieß das meistens, dass die Frau hinter der Ladentheke stand, die Kunden bediente und für eine Wohlfühl-Atmosphäre sorgte. Diese Frauen hörten schon mehr, was sich in Stadt und Land so tat.

 

Ja, und 1918 durften die Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen. Das war bislang reine Männersache gewesen und bei den ersten Wahlen war es nicht ungewöhnlich, dass Frauen sich dem anschlossen, was ihre Ehemänner wählten. Aber mehr und mehr fühlten sie sich mitverantwortlich und begannen, sich für die Probleme in Stadt und Land zu interessieren. Ja, auch Frauen diskutierten über Politik.  Schon seit 1902 gab es den Kath. Deutschen Frauenbund, der Vorträge und Diskussionsrunden organisierte. Im geschützten Raum sozusagen, konnten sich hier die Frauen treffen, bekamen ein politisches Grundwissen vermittelt und konnten sich mit aktuellen politischen und sozialen Themen vertraut machen. Hier fanden auch unverheiratete Frauen, die ihren eigenen Beruf hatten, ein anregendes Umfeld.

x So war es mit dem Ende des 1. Weltkrieges und mit dem Ende des Kaiserreiches und der Ausrufung der Republik ein ganz großes Ereignis, als am 30. November 1918 das Reichswahlgesetz in Kraft trat. Es sah das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen vor – ja, es verschaffte auch den Frauen das aktive und passive Wahlrecht.

Welch ein großer Schritt nach vorne! Lange hatten engagierte Frauen für das Frauenwahlrecht gekämpft. Schon 1843 wurde  die ungeheuerliche Forderung aufgestellt: „Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, es ist eine Pflicht!“ Das sollte damals aber mit aller Kraft verhindert werden, darum wurde 1850 in Preußen das Vereins- und Versammlungsgesetz erlassen, das „Frauenspersonen, Geisteskranken, Schülern und Lehrlingen“ die Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen untersagte.

 

Aus England hörte man, dass mutige Frauen sogar auf die Straße gingen, um sich ihr Wahlrecht zu erkämpfen. Man nannte sie „Suffragetten“, das war sehr wohl abwertend gemeint, obwohl „suffrage“ nichts anders heißt als Wahlrecht. X Diese Suffragetten, die meistens aus der bürgerlichen Oberschicht kamen, erregten solch ein öffentliches Ärgernis, dass einige von ihnen verhaftet und ins Gefängnis gesperrt wurden. Aber der Zug war nicht mehr aufzuhalten und die Bevölkerung jubelte den mutigen Frauen immer mehr zu.

Dieser Protest der „Suffragetten“ in England erregte auch in Deutschland großes Aufsehen. Aber durfte eine „ehrbare deutsche Frau, die was auf sich hielt“, auf die Straße gehen und lautstark ihre Rechte einzufordern? Das schickte sich doch nicht!!!.  Es dauerte noch einige Zeit, bis weitblickende Frauen den Mut und den Kampfgeist aufbrachten, für das Frauenwahlrecht zu kämpften. Sie wussten ja ganz genau, dass sie nicht mit der Unterstützung der Männer, schon gar nicht der eigenen Ehemänner, rechnen durften. Sie waren ganz auf sich allein gestellt - daran waren die meisten Frauen nun wirklich nicht gewöhnt. Die Verantwortung für Gesellschaft hatte bislang allein bei den Männern gelegen.

x Dann aber wagten es in Berlin doch mutige Frauen, eine Demonstration für das Frauenwahlrecht zu organisieren. Sie waren nicht tollkühn, sie griffen nicht zu drastischen Mitteln und mussten trotzdem viel Hohn und Spott und Unverständnis über sich ergehen lassen.


1912 Frauen in Berlin kämpfen für das Wahlrecht

1902 hat dann das Preußische Abgeordnetenhaus den Frauen erlaubt, an politischen Versammlungen teilzunehmen. Sie durften sich allerdings nur im „Segment“ aufhalten, in einem mit einer Kordel abgetrennten Bereich. Sie hatten kein Rederecht und durften auch keinerlei Gemütsäußerungen kundtun. Erst 1908 wurden diese Verbote mit dem Reichsvereinsgesetz aufgehoben. Nun konnten auch Frauen in Deutschland politischen Vereinen und Parteien beitreten und sich dort auch zu Wort melden. Endlich durften auch die Frauen ein politisch denkendes Wesen sein, das mitbestimmen darf, was in der Gesellschaft passiert.

Bis zum 1. Weltkrieg war es aber fast ausschließlich die SPD, die Frauen in ihre Partei aufnahm. Das konservative Zentrum hielt sich da noch sehr zurück. Und 1918 war es dann endlich so weit: Auch Frauen bekamen das aktive und passive Wahlrecht.

Schon 1919 bei der ersten Wahl mit Frauenwahlrecht in Warendorf wurde Anna Stoffers von der Lüningerstraße 9 in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Als Beruf wurde Ehefrau angegeben. Sie hatte auf der gemeinsamen Liste der Freien Gewerkschaften und der SPD auf Listenplatz 2 kandidiert. Das ist schon sehr erstaunlich, denn die SPD bekam nur zwei Plätze im Stadtparlament und hatte so auf Anhieb 50% Frauenanteil in ihrer Fraktion. Anna Stoffers blieb nur eine Wahlperiode im Stadtparlament. Leider haben wir kein Bild von ihr und es ist uns heute auch nichts Näheres über sie bekannt.

 

Mechtild Wolff

 

Quellen:

Leserbrief von Louise Otto in den „Sächsischen Vaterlandsblättern“ von 1843

Hans Joachim Werner: Politisches Bewußtsein Warendorfer Frauen 1924

„Clara Schmidt und die Frauenliste“
Warendorfer Frauen kämpfen um einen Platz im Stadtparlament
von Mechtild Wolff (5. 5. 2024)

Im Jahr 1924 gab es politische Aufregungen in Warendorf. Das Stadtparlament musste am 4. Mai neu gewählt werden. Eigentlich sollte alles sehr einvernehmlich vor sich gehen. Die Zentrumspartei hatte sich mit den anderen Parteien, mit der Christlichen Arbeiterschaft, der Handwerkerinnung, dem Gewerbeverein, dem Beamtenverein und den landwirtschaftlichen Ortsvereinen auf eine „Bürgerliche Verständigungsliste“ geeinigt. Die Listenplätze waren schnell vergeben, denn die Sitze im Stadtparlament waren von 24 auf 18 Plätze verringert worden. Auch die Warendorfer Frauen hatten sich um einen Platz auf der Liste beworben, denn seit 1918 gab es ja endlich das aktive und passive Frauenwahlrecht. Nun wollten die Frauen gern eine Vertreterin ins Stadtverordnetenkollegium entsenden. Aber keiner der Stände wollte auf seinen Sitz verzichten, so wurde den Frauen eine Absage erteilt. Doch die Warendorfer Frauen gaben sich damit nicht zufrieden und bestanden darauf, einen Platz auf der Liste zu bekommen. Sie wiesen sehr deutlich darauf hin, dass ja 50 Prozent der Wähler Frauen sind.

Alles Bitten war vergebens – sie bekamen nicht einen Platz auf der Liste..

Im neuen Emsboten schrieb Natz Gliewenkieker am 18. April in seiner Glosse: „Das Zentrum setzte sich für die Aufstellung einer Frau ein, konnte aber die Forderung nicht durchdrücken. Die Frauenkandidatur fiel, aber der Zorn der Frauen stieg, er stieg höher und höher und nun haben wir die Bescherung: In Warendorf herrscht Krieg - trotz Friedensgesellschaft. Die Frauen haben den Männern den Krieg erklärt. Ob angesichts solcher unheildrohender Entwicklung der ein oder andere Ehemann doch bedenklich wird und an Goethes Ansicht denkt: Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen! - Aber man wollte keine silbernen Schalen im Rathaus haben und so können die Männer auch keine goldenen Äpfel hineinlegen…“ 

Am 23. April fand im Gesellenhaus – so nannte man damals das Kolpinghaus - eine Versammlung des Frauenbundes statt, auf der Frl. Regierungsrat Dr. Laarmann einen sehr sachkundigen Vortrag über die Mitarbeit der Frau in der Gemeinde hielt. Frl. Dr. Laarmann war Dezernentin für die Wohlfahrtspflege und weibliche Jugendpflege bei der Regierung in Münster. Sie betonte in ihrem Vortrag, dass Frauen ein Recht auf Gleichberechtigung haben, das sie sich insbesondere durch ihre „Kriegsarbeit“ erworben haben. Da haben sie nämlich unverdrossen neben ihrer Arbeit im Haushalt die Arbeit der Männer mit verrichtet, in der Landwirtschaft, in der Munitionsfabrik, in den Verwaltungen, in den Lazaretten und wo auch immer Hilfe gebraucht wurde. Frauen sind für die politische Mitsprache sehr wohl befähigt und können bei den oft unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten ausgleichend und vermittelnd wirken.

Die Frauen waren sich schnell einig, dass sie nun eigene Wege gehen müssen, wenn die Männer ihren berechtigten Forderungen nicht nachgeben wollen. Die Zeit drängte, denn die Wahl zum Stadtparlament war auf den 4. Mai 1924 festgelegt, also in 11 Tagen. Nach intensiven Diskussionen beschlossen die 60-80 anwesenden Frauen der Versammlung, eine eigene Liste aufzustellen. So entstand am 23. April 1924 die erste und einzige „Frauenliste“ in Warendorf.

Sieben angesehene Bürgerfrauen nahmen „das Opfer der Kandidatur“ – so drückten sie sich aus - auf sich:

1. Frau Clara Schmidt, Landesobergerichtsratsfrau, Oststr. 39

2. Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin, Brede 13

3. Frau Theresia Kemner, Webersfrau, Petersiliengasse 2

4. Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau, Ostpromenade 6

5. Fräulein Paula Gildemeister, Telegraphen-Assistentin, Oststr. 39

6. Frau Bäckermeister Theresia Heinermann, Kirchstraße 3

7. Frau Sparkassendirektor Gertrud Becker, Lange Kesselstraße 4

Auf Platz 1 also stand Clara Schmidt, die Initiatorin der Frauenliste.
Wer war diese Clara Schmidt?

Sie wurde 1874 als Clara Gertrud Maria Willebrand als jüngstes von sechs Kindern Oelde geboren. Ihr Vater Josef Ignatz Willebrand (*1829) wurde 1879, als Clara 5 Jahre alt war, als Amtsgerichtsrat Leiter des Amtsgerichts in Warendorf. Er war der Vorgänger von Wilhelm Zuhorn, den wir ja als den Gründer des Heimatvereins gut kennen. Amtsgerichtsrat Josef Willebrand kauft das Haus Oststraße 39, wo Clara mit ihren Geschwistern aufwuchs. Prägend für die junge Clara war, dass ihr Vater von 1892 bis 1908 Mitglied des Preußischen Abgeord netenhauses in Berlin war. So bekam sie schon früh einen Einblick in die große Politik.

1895 heiratete Clara den damaligen Gerichtsreferendar Edmund Schmidt, der Landesobergerichtsrat in Karlsruhe wurde. Die Ehe blieb kinderlos, das gab Clara Schmidt den Freiraum, sich für den 1903 gegründeten Kath. Deutschen Frauenbund zu engagieren. Sie gründete 1909 den ersten Zweigverein in Karlsruhe und gehörte ab 1918 dem Reichsverein des Frauenbundes an.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes Edmund zog Clara Schmidt 1920 zurück nach Warendorf, um ihren hochbetagten Eltern zur Seite zu stehen. In ihrer Heimatstadt wurde sie recht bald die rührige und ideenreiche Vorsitzende des Warendorfer Kath. Frauenbundes als Nachfolgerin von Selma Ewringmann, der Frau des Bürgermeisters Hugo Ewringmann.

Im Frauenbund wurden von Rektor Clemens Hugenroth und Studienrat Dr. Franz Rohleder staatsbürgerliche Kurse abgehalten, um den Frauen das nötige Rüstzeug zum politischen Denken und Handeln zu geben. Bei den Zusammenkünften der Frauen wurden neben politischen Themen insbesondere Mädchenschulbildung, Jugendfürsorge, Volksbildung, Kino, Armenfürsorge und Betreuung der Wöchnerinnen diskutiert. Das neue Wohlfahrtsgesetz brachte für die Städte viele neue Aufgaben. Und dabei wollten die Frauen mitreden, denn, so schrieben sie in der Zeitung: „Es gibt gewisse Dinge, wo ein Frauenzimmer schärfer sieht, als hundert Augen der Mannspersonen!“ Dafür wollten sie eine Vertreterin ins Stadtparlament entsenden. Da die Stände ihnen ja keinen Listenplatz gewährten, mussten sie dafür sorgen, dass die Frauenliste Akzeptanz in der Bevölkerung bekam.

Darum entfachten die Frauen eine rührige Propagandatätigkeit - Wahlwerbung würde man das heute nennen. In Privatwohnungen fanden Besprechungen und Versammlungen statt. Diejenigen Frauen, die über genügend Zeit verfügten und redegewandt waren, gingen in den verschiedenen Stadtteilen und in den Bauer-schaften von Haus zu Haus, um für die sieben Kandidatinnen der „Frauenliste“ zu werben. Meistens wurden sie freundlich aufgenommen. Vor allem die Hausfrauen brachten ihnen viel Verständnis entgegen. Es kam aber auch vor, dass sie vom Hausherrn angeknurrt wurden und zu hören bekamen: „Frauen gehören hinter die Kochpötte und sollen lieber auf ihre Kinder aufpassen!“

Auch die „Bürgerliche Verständigungsliste“ wurde sofort aktiv. Schon am 24.4., also am Tag nach der Begründung der „Frauenliste“ im Kolpinghaus, veröffentlichten sie zusammen mit der Zentrumspartei im Neuen Emsboten eine Erklärung, dass sie die Frauenliste nicht anerkennen, unterschrieben von den Warendorfer Pfarrern und von hochangesehenen Bürgern.

Ja, in ganz Warendorf wurde über die Kandidatur der Frauen aufgeregt gestritten. In den Zeitungen war damals viel über die Suffragetten in London und Berlin zu lesen, die für die Rechte der Frauen auf die Straße gingen. Je näher der Wahltag rückte, umso erhitzter entbrannte der Wahlkampf auch in Warendorf.

Der Stadtverordnetenvorsteher verkündete: „Solange ich im Rathaus bin, kommt kein Unterrock ins Stadtparlament!“

Je eifervoller die Frauen ihre Rechte verteidigten, umso hartnäckiger wurden die Männer. „Keine Frau soll ins Rathaus einziehen!“ Zur Bekräftigung dieses Schwurs legten drei honorige Bürger in Mimi Temmes Gastwirtschaft am Marktplatz sogar 300 Mark unter ihre Altbierpötte. Die sollten verwettet sein, falls auch nur ein Frauenzimmer ins Rathaus einzieht.

Die Kunde von den mutigen Frauen in Warendorf verbreitete sich über ganz Deutschland. Die großen Zeitungen in Köln, Hannover und Hamburg brachten lange Artikel mit den Schlagzeilen:

„ Amazonenschlacht in Warendorf!“

„Da werden Weiber zu Hyänen!“

„ Schmerz, lass nach!“

„ Frauen kämpfen um ihr Recht!“

Auch im Ausland machten die Warendorfer Frauen von sich reden. Ein Londoner Blatt titelte: „Wir beglückwünschen und grüßen die Warendorfer Suffragetten!“

Je näher die Wahl kam, umso hitziger wurde die Auseinandersetzung. Die letzten Tage und Nächte waren so zermürbend, dass manche der engagierten Frauen Angst vor ihrer eigenen Courage bekam.

Flugblätter und Wahlplakate, auf denen die Frauen lächerlich gemacht wurden, flatterten in die Häuser und wurden an Litfaßsäulen, Mauern und Bäumen angeschlagen.

Die Ehemänner wurden bedrängt, ihre Frauen an der Leine zu halten, was wiederum die Frauen herausforderte, zu erklären, sie seien Manns genug, mit ihrem Stimmzettel gegen die Männer zu kämpfen.

Spottgedichte wurden verfasst und vertont und mit Musikbegleitung und der dicken Trommel nächtens vor den Häusern der kandidierenden Frauen gesungen.

Am Tag vor der Wahl kämpften die Vertreter der Verständigungsliste in der Presse mit harten Bandagen. In den Westfälischen Nachrichten veröffentlichten sie unter dem Titel: Was gibt es …wenn die streitbare kleine Gruppe einen Sitz im Stadtverordneten-Kollegium bekommt? Mit semmelsüßen Redensarten werden die Bürger eingewickelt. Die Politik wird dann in Kaffeeklatschen fabriziert und mit Gefühl serviert werden. Gelegentlich werden auch lyrische Gedichte vorgetragen. Solche Genüsse verderben auf die Dauer den besten Magen, darum ist die gute, derbe Hausmannskost das Beste,… darum wählt jeder vernünftig Denkende, Frau und Mann, nur die „Bürgerliche Verständigungsliste“.

Oder in dem Beitrag: „Frauendämmerung“.

Warendorf steht in ganz Deutschland einzig da mit seiner Frauenliste infolge des Vorgehens einer kleinen Gruppe sich revolutionär gebärdender Frauen. Aber es dämmert allmählich, weil ihnen die Felle wegschwimmen, denn der gesunde Menschenverstand der Arbeiter, Handwerker, Landwirte, Gewerbetreibenden und Beamten (Männer und Frauen) betrachtet dieses eigenmächtige Vorgehen einer kleinen Gruppe Frauen als Anmaßung und Pantoffelpolitik. Es ist selbstverständlich und klar, daß jeder recht denkende Mensch nur die „Bürgerliche  Verständigungsliste“ wählen kann.

 

Ja, diese Frauen bekamen eisigen Gegenwind und brauchten wirklich Mut!

Endlich kam der wichtige Wahltag, der 4. Mai 1924. Die Wahlbeteiligung war überwältigend. Eine fast unerträgliche Spannung herrschte in der ganzen Stadt. Es war in Warendorf üblich, dass sich an Wahlabenden die interessierten Wähler im Kolpinghaus versammelten, um die Resultate aus den Wahlbezirken telefonisch in Empfang zu nehmen. Als unübersehbar wurde, dass die Frauenliste viele Stimmen bekommen hatte, wurden die Gesichter der Gegner immer länger. Kreideweiß um die Nase stellte ein Bürger fest: „Ich glaube, die kriegen wahrhaftig eine drin!“

Das Unglaubliche geschah: Die Frauenliste bekam 782 Stimmen, das waren über 20 Prozent der Stimmen. Die ersten vier Kandidatinnen der Frauenliste konnten ins Stadtparlament einziehen:

Frau Clara Schmidt, Vorsitzende des Kath. Frauenbundes

Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin

Frau Theresia Kemner, Webersfrau

Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau

Die Mehrheit lag nach wie vor bei der Verständigungsliste des Zentrums mit 2406 Stimmen, das waren 12 Mandate. Die Sozialdemokraten bekamen wieder nur 2 Mandate (481 Stimmen). Das war ein schwerer Schock für die Ratsherren.

Am 5. Mai 1924 kommentierte der Neue Emsbote: Die Warendorfer Stadtverordnetenwahl hat weit über Stadt und Kreis Warendorf, ja über Westfalen hinaus, das Interesse weiter Kreise wachgerufen, und zwar infolge der Aufstellung einer besonderen „Frauenliste“ gegenüber den Männern. Heute kann die ganze Frauenwelt Deutschlands mit Genugtuung auf den Erfolg ihrer Warendorfer Vorkämpferinnen hinblicken.“ Dann allerdings meinte die Zeitung die Kurzlebigkeit der Frauenliste prognostizieren zu können: „Die Warendorfer Männer und Frauen werden sich bald wiederfinden, denn kein Mann in ganz Deutschland kann seine Frau so schlecht entbehren wie der Warendorfer, wenn er hinterm Altbierpott sitzt und seine Frau geduldig und liebevoll Haus und Hof bewahrt.“

Auch nach Amtsantritt in der Stadtverordnetenversammlung mussten sich die gewählten Frauen noch manche Demütigungen gefallen lassen. So wurde in der ersten Ratsversammlung nur kurz beraten. Dann erklärte der Stadtverordnetenvorsteher: „Ich schließe hiermit die Versammlung und bitte die Herren, mit mir ins Nebenzimmer zu gehen.“ Die vier Frauen waren ausgeschlossen.

Zu Fronleichnam gab es traditionell die große Stadtprozession. Jeder Ratsherr rechnete es sich zur Ehre an, hinter dem Allerheiligsten gehen zu dürfen. Nun stellte sich die bange Frage: „Sollen die Frauen bei der Prozession mit den Ratsherren gehen?“ So etwas hatte es noch nie gegeben! „Frech genug wären die ja!“ flüsterten sich einige Bürger hinter vorgehaltener Hand zu. Aber die gewählten Frauen ließen sich nicht verblüffen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Ratsherrinnen zogen ihr Schwarzseidenes an und die weißen Glacéhandschuhe und mischten sich unter die Ratsherren. Das Aufsehen und das Getuschel waren groß! Noch nie hatten so viele Zuschauer bei einer Prozession am Straßenrand gestanden.

Als bei der Einführung des neuen Bürgermeisters Rudolf Isphording und dem nachfolgenden Festessen der Oberpräsident der Provinz Westfalen Johannes Franz Gronowski aus Münster auf die vier Damen zuging und sich angeregt mit ihnen unterhielt und sogar eine der Damen zu Tisch führte, gewannen die Frauen auch bei den Ratsherren an Ansehen.

Die Gemüter beruhigten sich, die Spannung ließ nach und es kam zu einer einträchtigen und nutzbringenden Zusammenarbeit im Rathaus. Die Stadtverordneten des Zentrums zeigten sich zugängig für die Anliegen der Frauen, die ja alle aus einem zentrumsnahen Umfeld kamen. Bei der nächsten Wahl 1929 war es eine Selbstverständlichkeit, dass zwei Frauen mit auf die Wahlliste kamen, Clara Schmidt und Elisabeth Schwerbrock. Der Kampf der mutigen Frauen war beispielhaft und machte in ganz Deutschland Schule.

Clara Schmidt blieb Stadtverordnete bis 1933. Dann legte sie ihr Mandat nieder, weil sie den Nationalsozialisten nicht dienen wollte. Sie lebte bis zu ihrem Tode 1949 in Warendorf an der Oststraße 39.
2018 benannte die Stadt Warendorf auf Vorschlag des Heimatvereins eine Straße in dem neuen Baugebiet am Friedhof „Clara-Schmidt-Straße“, um die mutigen Frauen nicht zu vergessen.


Sufragetten in Berlin 1912

Mechtild Wolff

 

Quellen: Clara Schmidt: Aufzeichnungen und Zeitungsberichte

             Laura Enders: Bericht über den Wahlkampf der Frauenliste,

             Bilder:   Zeitungsberichte und Plakate: Mechtild  Wolff

             Bild: Clara Schmidt, Archiv der Altstadtfreunde

 

Bericht zur Vortrags- und Diskussionsveranstaltung des Heimatvereins Warendorf am 5. 5. 2024
Thema: "Clara Schmidt und die Frauenliste 1924 in Warendorf"
Ein denkwürdiges Jubiläum: „100 Jahre Clara Schmidt und die Frauenliste“

 

Ja, es waren mutige Frauen, die 1924 mit Clara Schmidt und der „Frauenliste“ um einen Platz in der Stadtverordnetenversammlung kämpften und vier Mandate errangen, trotz des eisigen Gegenwindes der Männer, die für die „Verständigungsliste“ warben. Welch ein Schock für die politische Männerwelt, die sich noch nicht daran gewöhnen konnten, dass seit 1918 auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht gewährt wurde.

Diese längst vergangene Zeit ließ die Heimatvereinsvorsitzende Mechtild Wolff in der so stimmungsvollen Galerie Heinrich Friederichs lebendig werden, ergänzt durch die Erläuterungen von Dr. Bernward Fahlbusch zu der politisch im Preußischen Abgeordnetenhaus aktiven Familie von Clara Schmidt.

Wie ging es weiter mit der Frauenpräsenz in der Warendorfer Politik? Diese spannenden Entwicklungen konnten die zahlreichen Besucher diskutieren bei Kaffee und Erdbeertörtchen und leckeren Snacks, zu der die Hausherrin Rosemarie Friederichs gastfreundlich einlud. Ein wahrlich gelungener Erinnerungsnachmittag an die mutigen Frauen, die 1924 das kleine Städtchen Warendorf in ganz Deutschland und darüber hinaus bekannt machten.

 

Was geschah alles damals vor 100 Jahren, als die Frauen für ihre politischen Rechte kämpften? Das erzählt die Geschichte „Clara Schmidt und die Frauenliste“.

 

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