Bald
ist es wieder soweit und die ersten Äpfel können geerntet werden. Dann
erinnere ich mich mit Vergnügen an die Apfelernte in meiner Jugend.
Schon beim Anblick der wunderschön blühenden Apfelbäume im Frühjahr
strahlten die Augen meines Vaters. Er freute sich an dem weißen
Blütenmeer, das eine reiche Apfelernte versprach.
Wir hatten in unserem Garten nur einen Apfelbaum, das war viel
zu wenig für die große Familie. Darum verfolgte Vater mit großem
Interesse das Gedeihen der Äpfel an den Chausseebäumen. Neben der
Landstraße von Warendorf nach Klauenberg verlief an der Südseite die
Eisenbahnstrecke, die Nordseite war mit Apfelbäumen bepflanzt.
Nach dem 1. Weltkrieg, also in den 1920er Jahren, waren wir
Nutznießer dieser sehr klugen Bepflanzung der Landstraße mit Apfelbäumen
der verschiedensten Sorten, die ohne Pflegeschnitt im Wildwuchs üppig
wuchsen und reiche Ernte trugen. Diese Apfelbäume wurden von der
Kreisstraßenbauverwaltung in Warendorf zur Zeit der Reife versteigert.
Vorher war das Pflücken streng verboten. Äpfel aufsuchen durfte man
allerdings. Hatte es kurz vor der Ernte in der Nacht gestürmt, weckte
uns unsere Mutter um 6 Uhr in der Früh und mein älterer Bruder Otto und
ich fuhren dann eilig in Richtung Klauenberg, mit großen Taschen an den
Fahrrädern. Wir mussten früh da sein, denn viele Leute nutzten diese
gute Gelegenheit der Fallobsternte. An einem „guten Baum“ – wir wussten
genau, wo die leckeren Äpfel wuchsen – füllten wir schnell unsere
Taschen und radelten schwer bepackt wieder heim. Zu Hause war dann nur
noch Zeit für ein eiliges Frühstück, denn wir durften nicht zu spät zur
Schule kommen.
Sehr
spannend war es, wenn endlich der Tag der Apfelbaum-Versteigerung
gekommen war. Viele Warendorfer versammelten sich dann an der
Klauenberger Chaussee. Unser Vater ersteigerte immer einen ganzen Block,
etwa vier bis fünf Bäume. Wenn er Glück hatte, bekam er die Bäume mit
den „guten Äpfeln“. Boskop war besonders beliebt, denn diese Äpfel
konnte man – leicht angeschrumpelt - bis Ostern lagern.
Die ersteigerten Bäume mussten am gleichen Tag abgeerntet
werden, denn am nächsten Tag wurden alle Apfelbäume zum Ernten für
jedermann freigegeben. Also beluden wir nach dem Mittagessen den
Bollerwagen mit einer Leiter, zwei Apfelpflückern und großen Taschen.
Zwei Kinder zogen den Bollerwagen über die Landstraße nach
Neu-Warendorf, die anderen kamen mit den Fahrrädern. Gut, dass wir fünf
Kinder hatten, jetzt wurde jede helfende Hand gebraucht.
Hatten wir die für uns markierten Bäume gefunden, ging es
eifrig ans Pflücken und Aufsuchen. Die Pflückäpfel packten wir
vorsichtig in den Bollerwagen, die Falläpfel kamen in die Taschen.Zur Kaffeezeit kam unsere Mutter mit dem Fahrrad und brachte
uns Reibekuchen und Saft, ein wohlverdienter Schmaus.
Waren unsere Bäume abgeerntet, zogen wir mit dem hochgefüllten
Bollerwagen und den schweren Taschen am Fahrrad gen Heimat. Wir hatten
einen anstrengenden, aber einträglichen Erntenachmittag gehabt und waren
redlich müde. Aber zu Hause mussten erst die Äpfel im kühlen Keller
vorsichtig in die Apfelregale gelegt werden und wir mussten aufpassen,
dass sie kleine Druckstellen bekamen, denn dann faulten sie leicht. Nach
getaner Arbeit waren wir stolz, für einen reichhaltigen Wintervorrat
gesorgt zu haben.
Mutter kontrollierte die Äpfel jeden Tag und sortierte die
angefaulten heraus. Die wurden sofort zu Apfelmus verarbeitet und zu
jedem Mittagessen stand frisches Apfelkompott auf dem Tisch und sonntags
gab es natürlich einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Ja, Äpfel waren ein
wichtiges und preiswertes Lebensmittel der damaligen Zeit.
Durch seine gute Lagerfähigkeit war der Apfel im Winter der
wichtigste Vitaminspender. „An apple a day keeps the doctor away!“
diesen englischen Spruch kannten wir damals schon.
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke wurde 1912 in Warendorf
geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf. Im
Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen aus ihrem Leben im
Warendorf der 1920er Jahre aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von
103 Jahren.
„De
Iemse geiht dört Mönsterland
so sachte äs en Kind.
Ist wull noch wiet bis an dat Meer?
Worüm denn so geschwind!“
„Die Ems geht durchs Münsterland,
sanftmütig wie ein Kind.
Ist wohl noch weit bis an das Meer?
Warum denn so geschwind!“
„So läuft sie denn seit Jahrhunderten durch das
weite Land, die gute alte Ems. Auch an der Stadt
Warendorf fließt sie vorüber und hat immer regen
Anteil am Leben der Stadt genommen. Ja, sie
prägte unser Stadtbild.“ So schrieb Paula
Telker, Tochter des ersten Bademeisters Josef
Telker.
Die Ems bot früher den Bewohnern der Stadt
Warendorf die einzige Möglichkeit, sich an
heißen Tagen durch ein kühles Bad zu erfrischen.
Baden oder sogar schwimmen im Fluss war jedoch
sehr gefährlich, denn die Untiefen der Ems
wechselten nach jedem Hochwasser.
Auch Kahnpartien waren sehr beliebt. So
starteten 1882 einige junge Männer zu einer
Bootsfahrt von Warendorf nach Telgte. Es ging um
eine Wette. Nach 3,5 Stunden hatten sie Telgte
erreicht und die Wette gewonnen. Beim Gang durch
die Stadt erblickten sie ein Schild mit der
Aufschrift:
„Aktion Badeanstalt Telgte“ Man war begeistert
von der Idee. Was die Telgter können, müsste den
Warendorfern auch gelingen. Es wurde viel
diskutiert, dafür und dagegen. Ein ganz
Altkluger meinte:
„ Jäe, jäe! Laot dat Water ut den Buuk un den
Buuk ut dat Water“.
(Ja, ja, lass das Wasser aus dem Bauch und den
Bauch aus dem Wasser.)
Der
wohlgemeinte Rat wurde nicht befolgt. In der
Stadt wohnte der Rentner Oskar Eylardi. Er war
ein aufgeschlossener Mann und hatte für
gemeinnützige Angelegenheiten ein offenes Ohr.
Es gelang ihm eine „Warendorfer Badeanstalt AG“
zu gründen. So kam die Sache in Schwung.
Die Badeanstalt sollte in die Ems gebaut werden,
oberhalb der Stadt an der Klosterpromenade in
der Nähe des Bentheimer Turms, wo heute das
Marienheim steht. Es wurde eine Floßbadeanstalt
geplant, ein auf Tonnen schwimmender
Bretteraufbau. Die Firma Ahmerkamp wurde mit den
Bauarbeiten betraut. Am 13.Juni 1886 konnte die
Floßbadeanstalt feierlich eröffnet werden.
Trotz aller Unkenrufe hieß es nun:
Laot dat Water ut den Buuk |
Lass das Wasser aus dem Bauch |
So ging der Badebetrieb los. Josef Telker wurde erster
Bademeister und sorgte für die nötige Ordnung und das Wohl
seiner Badegäste. Seine Frau half ihm dabei. Herr Telker hatte
während seiner Militärzeit bei den 13ern in Münster seine
Schwimmmeister-Prüfung abgelegt. Vielen Warendorfern hat er die
Schwimmkünste beigebracht.
Wie sah die Badeanstalt aus?
Sie schwamm auf Tonnen, die zwischen Balken festgehalten wurden.
Das gesamte Floß war mit Ketten zu beiden Seiten am Ufer der Ems
befestigt. Das Bassin war der Mittelpunkt der Anlage und wurde
von den Ankleidezellen umgeben. Durch Holzgitter floss das
Emswasser in das Bassin. Für die Freischwimmer öffnete sich an
der Ostseite eine große Tür zur freien Ems. Rote Fähnchen am
Ufer steckten die Grenzen für die Freischwimmer ab, wenn auch
mancher Schwimmer in Versuchung kam, etwas weiter um die Ecke zu
schwimmen.
Es gab neben dem großen Schwimmbecken noch einzelne kleine
Badekabinen. Sie lagen am Ende des schwankenden Holzsteges. Da
ein Badezimmer in der Wohnung noch eine große Seltenheit war,
erfreuten sich die Badekabinen großer Beliebtheit. Meine Mutter
hat mich als kleines Mädchen oft mitgenommen in dieses
Reinigungs- und Erfrischungsbad. Der kleine Raum hatte bis zur
Hälfte einen Bretterboden mit einer Sitzbank, auf der man auch
die Kleider ablegte. Über eine steile Leiter stieg man in das
Emswasser und stand auf einem Holzboden. Frisches Wasser floss
ständig durch die Holzlatten. Beim ersten Mal rutschte ich auf
dem glatten Holz aus und lernte das Wasser von unten kennen.
Mutter zog mich schnell hoch. Der Schrecken war groß, konnte
aber meine Freude am Plantschen im Wasser nicht trüben.
Vergessen habe ich diesen Schreck nie.
Die Badezeiten waren streng geregelt. Herren- und Damenbaden
wechselten sich ab.
Die Badefreudigkeit der Jugend war besonders groß. Die Mädchen
durften von 2 bis 4 Uhr baden, von 4 bis 6 Uhr waren die Jungen
an der Reihe. Schon lange vor 2 Uhr standen wir Mädchen vor dem
verschlossenen Badeanstaltstor in der Promenade, bis der
Bademeister mit dem Schlüssel kam. Wenn Vater Telker oder auch
seine Frau in Sicht waren, teilte sich die Mädchenschar und
bildete eine Gasse. Frau Telker war immer dunkel gekleidet, trug
einen langen Rock und mit einer Schürze. In unseren Augen war
sie eine sehr alte Frau. Am Arm hatte sie ein Körbchen mit der
Kaffee-Mahlzeit.
Wie der Sturmwind sausten wir in die Umkleidekabinen und dann
ins Wasser. Wir wollten keine Minute vergeuden. Zwei Stunden
vergingen schnell.
Die
meisten Kinder lernten Schwimmen ohne offizielle Anleitung. Es
gehörte einfach dazu wie das Radfahren. Unserem Vater - er war
Lehrer an der Münsterwallschule - war es aber eine wichtige
Aufgabe, den Schülern im dritten und vierten Schuljahr das
Schwimmen beizubringen. Die Warendorfer Kinder spielten nämlich
gern in der Nähe der Ems, und leider ertranken immer wieder
Kinder in dem tückischen Fluss. Die wechselnden Tiefen der Ems
waren eine große Gefahr für die Nichtschwimmer.
Im Sommer wurde die Sportstunde ins Freibad verlegt. Vater trug
dann einen ganz modernen Badeanzug aus schwarzer Wolle, ähnlich
wie ihn die Damen trugen, nur ein Träger wurde über die Schulter
gelegt, der andere fiel locker herunter. So war es schick in den
Zwanziger Jahren.
Der Aufbau der Floßbadeanstalt im Frühjahr und der Abbau im
Herbst verursachten jedes Jahr große Kosten. Nach 40jährigem
Betrieb der Floßbadeanstalt suchte man eine nicht so aufwändige
Lösung.
Die neue Flussbadeanstalt
Am 14. April 1926 wurde die neue Flussbadeanstalt eröffnet.
Bademeister Telker und seine Frau feierten gleichzeitig ihr
40-jähriges Dienstjubiläum. Ihnen war es zu verdanken, dass in
all den Jahren kein Unglücksfall in der Emsbadeanstalt
vorgekommen
war.
In der neuen Badeanstalt waren die Ankleidezellen nun um eine
Liege- und Spielwiese herum gebaut. Das Bassin wurde in das Ufer
gemauert, nur die Emsseite hatte ein Holzgitter zum Einlass des
Wassers. Mit einem dicken Seil war das Becken für Nichtschwimmer
und Schwimmer geteilt, der Zementboden war entsprechend schräg
gebaut. Neben dem Becken führte eine Treppe in die freie
Ems. Man musste einen Freischwimmschein vorweisen können, um in
der „ freien Ems“ schwimmen zu dürfen. Die Freischwimmer durften
auch die Sprungbretter benutzen und einen „ Köpper“ vom
Ein-Meter-, Zwei-Meter- oder Drei-Meter-Brett machen. Mitten in
der freien Ems lag ein langer, glatter Baumstamm verankert. Mit
all diesen Möglichkeiten war das Baden ein großes Vergnügen für
Jung und Alt.
Eine Neuerung sorgt für Unruhe in der
Bevölkerung: Unsere Badeanstalt wurde zum
Familienbad. Das Baden nach Geschlechtern
getrennt hatte ein Ende. Jetzt konnten endlich
die Familien gemeinsam zum Schwimmen gehen. An
heißen Sommertagen gab es so
viele
Badefreunde, dass auf der Liegewiese kaum ein
freier Platz zu finden war. Sorgen machte die
zunehmende Verschmutzung des Emswassers. In
früheren Jahren konnten wir den Stein, nach dem
wir tauchen wollten, auf dem Grund der Ems
liegen sehen.
Bis 1933 sorgte das Ehepaar Telker für Ordnung
in der Flussbadeanstalt, wegen des großen
Andrangs mit Hilfe von Tom Schmillenkamp, der
nach dem Tod von Josef Telker neuer Bademeister
wurde.
In der Kriegs- und Nachkriegszeit wurde unser
Freibad unter wechselnder Leitung geführt. Viele
Warendorfer erinnern sich lebhaft an die
Bademeister Bernhard Kieskemper, Lörchen und
Otto Kamphans. Über 70 Jahre lang hat die
Flussbadeanstalt vor allem der Warendorfer
Jugend in den Sommermonaten viel Freizeitspaß
gebracht. Die Ems lieferte unermüdlich und
kostenlos frisches Wasser.
1956 war dann das Baden im Flusswasser nicht
mehr zeitgemäß und die Flussbadeanstalt wurde
geschlossen. Die Stadt Warendorf errichtete 1959
auf der anderen Emsseite ein
modernes Freibad.
Den Mitgliedern der „Warendorfer
Badeanstalt-Aktien-Gesellschaft“ ist es zu
verdanken, dass Warendorf schon frühzeitig einen
geregelten Badebetrieb hatte. Seit 1919 war
Hermann Josef Brinkhaus ihr rühriger,
langjähriger Vorsitzender.
Erst
1936 übernahm die Stadt die Warendorfer
Badeanstalt AG.
Die Warendorfer Bürger haben diesem tatkräftigen
Vorstand auch die Einrichtung einer
Warmwasser-Badeanstalt zu verdanken. Es gab
damals in den Häusern nur wenige Badezimmer,
darum war es wichtig, auch im Winter öffentliche
Bademöglichkeiten anzubieten.
1909 wurde an das Wohnhaus der Familie Telker im
Zuckertimpen 14 eine kleine Warmwasser -
Badeanstalt angebaut. Die Anlage bot vier
Wannenbäder und sechs Duschen an. Sie war
ganzjährig geöffnet, außer im Hochsommer.
Mein Vater nahm oft ein Wannenbad, wir Kinder
begnügten uns mit der Dusche, das war billiger.
Im Herbst 1936 wurde diese Einrichtung
geschlossen. Die Stadt verlegte die
Warmwasser-Badeanstalt in die Volksschule an der
Klosterstraße. Bis in die 50er-Jahre wurde diese
Einrichtung rege genutzt, gemeinsam mit der
Jugendherberge, die auch im Keller der Schule
untergebracht war.
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke
wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in
einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf.
Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen
aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre
aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103
Jahren.
Bilder: Archiv der Altstadtfreunde Warendorf
Man
könnte auch sagen: 100 Jahre erfolgreicher Wahlkampf der politisch
engagierten Frauen in Warendorf oder plakativ ausgedrückt: 100 Jahre
Suffragetten in Warendorf. Es ist eine Erinnerung an die Pionierin Clara
Schmidt und eine Würdigung für sie und all ihre Mitstreiterinnen. Diese
mutigen Frauen fanden Beachtung in ganz Deutschland und sogar im
Ausland, denn es war der erste parlamentarische Erfolg einer
Frauenliste. Und all das kam aus dem kleinen Warendorf!!!
Die Galerie Heinrich Friederichs hier ist nicht nur ein
wunderschönes Ambiente, sondern auch ein Bürgerhaus, ein
Poalbürger-Haus, das viel Warendorfer Geschichte miterlebt hat. Ja, hier
hat vor 100 Jahren so manche Diskussion um die Frauenliste
stattgefunden, denn dieses Haus an der Oststraße 21 gehörte der
Rechtsanwaltsfamilie Enders. Dr. Josef Enders und später sein Sohn Theo
Enders und der Enkel Wolfram Enders hatten hier in den unteren Räumen
ihre Anwaltskanzlei und wohnten oben mit ihren Familien. Laura Enders
(1889-1964), die Frau des Seniors Dr. Josef Enders, war eine engagierte
und politisch interessierte Bürgerin, die das Herz auf dem rechten Fleck
hatte. Sie empörte sich 1924 sehr darüber, wie unfair die Frauen
behandelt wurden, für die „Frauenliste“ kandidierten. Darum unterstützte
sie diese mutigen Wahlkämpferinnen und machte auch Wahlkampf für die
Frauenliste. Natürlich kannte sie Clara Schmidt aus der Nachbarschaft
gut, ja sie war sogar weitläufig mit ihr verwandt. Viele Jahre später,
erst in den 1950er Jahren schrieb sie ihre Erinnerungen an diese
turbulente Zeit auf und veröffentlichte die schöne Geschichte „Die
Amazonenschlacht in Warendorf“ im Frauenbundheftchen. Dadurch ließ sie
einen
wichtigen und auch höchst amüsanten Teil der Warendorfer
Politik-Geschichte lebendig werden.
Dieses Heft übereignete Clara Schmidt ihrer Nichte Maria
Stieve, die 1944 ihre Nachfolgerin als Vorsitzende des Frauenbundes
geworden war. Die wiederum schenkte diese historische Dokumentation in
den 1960er Jahren ihre Nichte Margret Stieve, die nun Vorsitzende des
Frauenbundes war und mit meiner Mutter Eugenie Haunhorst zusammen eine
der wenigen Frauen im Rat der Stadt Warendorf war. Margret Stieve war
unverheiratet und kinderlos, darum übergab sie das Heft zu treuen Händen
an meine Mutter, die es dann mir vermachte. So kam ich an die vielen
authentischen Informationen zu Clara Schmidt und der „Frauenliste.“
Schön, dass Dr. Bernward Fahlbusch auch heute hier ist. Er hat uns dieses schöne Bild von Clara Schmidt zur Verfügung gestellt, denn auch er ist weitläufig verwandt mit Clara Schmidt und wird uns später mehr über die familie von Clara Schmidt und ihre Anbindung an das politische Geschehen in Preußen erzählen.
Nun aber zu Clara Schmidt und der Frauenliste
Ehe Frauen diese Rechte bekamen, mussten sie einen langen Kampf
kämpfen. Auch in Warendorf, ja, vielleicht gerade hier in Warendorf.
Warendorf war damals ein kleines Landstädtchen mit etwa 8000
Einwohnern, das in der Zeit der Leinenweberei seine Blütejahre erlebt
hatte. Ab 1830 aber konnte das Leinen billiger aus England gekauft
werde, weil es dort schon auf mechanischen Webstühlen gewebt wurde. Das
hatte zur Folge, dass die Warendorfer Weber nicht mehr von ihrem
Weberhandwerk leben konnten und sich auch hier Armut und Elend breit
machte. Erst als Hermann Josef Brinkhaus und Eduard Wiemann eine
mechanische Weberei eröffneten, gab es wieder Arbeitsplätze und viele
Menschen kamen in Lohn und Brot. Weitere Textilbetriebe siedelten sich
an und brachten Handel und Gewerbe wieder auf Schwung – jetzt
profitierten auch die Bäcker, Metzger, Schreiner und die vielen kleinen
Geschäfte. Warendorf wurde wieder zu einem geachteten Städtchen mit
einem soliden Wohlstand und geordneten Verhältnissen. Die Rangordnung in
der Gesellschaft war ja schon seit Generationen festgezurrt: Der Mann
war der Organisator des Lebens und verdiente das Geld, die Frau war
seine Hilfe, organisierte den Haushalt und sorgt für die Kinder. Sie
packte überall mit an.
X Es wurde von einer Frau erwartet, dass sie die Rolle der
Hausfrau und Mutter perfekt ausfüllte. Das war damals noch wesentlich
schwieriger, denn die Familien waren groß, acht Kinder waren keine
Seltenheit. Einen Haushalt zu führen war arbeitsintensiv und
zeitaufwändig. In Warendorf gab es erst seit 1907 fließendes Wasser und
erst seit 1920 versorgte das neue E-Werk die Stadthaushalte mit
elektrischem Strom. Endlich waren die Zeiten der Petroleum- und
Gaslampen vorbei, aber an eine Waschmaschine oder eine Spülmaschine war
noch nicht zu denken und ein Kühlschrank war ein unerreichbarer Luxus.
Außerdem war fast jeder Haushalt Selbstversorger. Obst, Gemüse
und Kartoffeln kamen aus dem eigenen Garten und die oft überreiche Ernte
musste in mühevoller Arbeit in Einmachgläsern eingekocht werden, damit
die Familie auch im Winter versorgt war. All das war unendlich viel
Arbeit, die von der Hausfrau, oft unter Mithilfe der Kinder, geleistet
werden musste. Diese Frauen konnten an außerhäusliches Engagement gar
nicht denken.
Anders war es schon bei den Geschäftsfrauen, deren Aufgabe es
war, die Arbeit ihres Mannes in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Bei
einem Ladengeschäft hieß das meistens, dass die Frau hinter der
Ladentheke stand, die Kunden bediente und für eine Wohlfühl-Atmosphäre
sorgte. Diese Frauen hörten schon mehr, was sich in Stadt und Land so
tat.
x
So war es mit dem Ende des 1. Weltkrieges und mit dem Ende des
Kaiserreiches und der Ausrufung der Republik ein ganz großes Ereignis,
als am 30. November 1918 das Reichswahlgesetz in Kraft trat. Es sah das
allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen vor –
ja, es verschaffte auch den Frauen das aktive und passive Wahlrecht.
Welch ein großer Schritt nach vorne! Lange hatten engagierte
Frauen für das Frauenwahlrecht gekämpft. Schon 1843 wurde die
ungeheuerliche Forderung aufgestellt: „Die Teilnahme der Frauen an den
Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, es ist eine Pflicht!“
Das sollte damals aber mit aller Kraft verhindert werden, darum wurde
1850 in Preußen das Vereins- und Versammlungsgesetz erlassen, das
„Frauenspersonen, Geisteskranken, Schülern und Lehrlingen“ die
Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen untersagte.
Aus England hörte man, dass mutige Frauen sogar auf die Straße
gingen, um sich ihr Wahlrecht zu erkämpfen. Man nannte sie
„Suffragetten“, das war sehr wohl abwertend gemeint, obwohl „suffrage“
nichts anders heißt als Wahlrecht. X Diese Suffragetten, die meistens
aus der bürgerlichen Oberschicht kamen, erregten solch ein öffentliches
Ärgernis, dass einige von ihnen verhaftet und ins Gefängnis gesperrt
wurden. Aber der Zug war nicht mehr aufzuhalten und die Bevölkerung
jubelte den mutigen Frauen immer mehr zu.
1912 Frauen in Berlin kämpfen für das Wahlrecht
1902 hat dann das Preußische Abgeordnetenhaus den Frauen
erlaubt, an politischen Versammlungen teilzunehmen. Sie durften sich
allerdings nur im „Segment“ aufhalten, in einem mit einer Kordel
abgetrennten Bereich. Sie hatten kein Rederecht und durften auch
keinerlei Gemütsäußerungen kundtun. Erst 1908 wurden diese Verbote mit
dem Reichsvereinsgesetz aufgehoben. Nun konnten auch Frauen in
Deutschland politischen Vereinen und Parteien beitreten und sich dort
auch zu Wort melden. Endlich durften auch die Frauen ein politisch
denkendes Wesen sein, das mitbestimmen darf, was in der Gesellschaft
passiert.
Bis zum 1. Weltkrieg war es aber fast ausschließlich die SPD,
die Frauen in ihre Partei aufnahm. Das konservative Zentrum hielt sich
da noch sehr zurück. Und 1918 war es dann endlich so weit: Auch Frauen
bekamen das aktive und passive Wahlrecht.
Schon 1919 bei der ersten Wahl mit Frauenwahlrecht in Warendorf
wurde Anna Stoffers von der Lüningerstraße 9 in die
Stadtverordnetenversammlung gewählt. Als Beruf wurde Ehefrau angegeben.
Sie hatte auf der gemeinsamen Liste der Freien Gewerkschaften und der
SPD auf Listenplatz 2 kandidiert. Das ist schon sehr erstaunlich, denn
die SPD bekam nur zwei Plätze im Stadtparlament und hatte so auf Anhieb
50% Frauenanteil in ihrer Fraktion. Anna Stoffers blieb nur eine
Wahlperiode im Stadtparlament. Leider haben wir kein Bild von ihr und es
ist uns heute auch nichts Näheres über sie bekannt.
Mechtild Wolff
Quellen:
Leserbrief von Louise Otto in den „Sächsischen
Vaterlandsblättern“ von 1843
Hans Joachim Werner: Politisches Bewußtsein Warendorfer Frauen
1924
Im Jahr 1924 gab es politische Aufregungen in Warendorf. Das
Stadtparlament musste am 4. Mai neu gewählt werden. Eigentlich sollte
alles sehr einvernehmlich vor sich gehen. Die Zentrumspartei hatte sich
mit den anderen Parteien, mit der Christlichen Arbeiterschaft, der
Handwerkerinnung, dem Gewerbeverein, dem Beamtenverein und den
landwirtschaftlichen Ortsvereinen auf eine „Bürgerliche
Verständigungsliste“ geeinigt. Die Listenplätze waren schnell vergeben,
denn die Sitze im Stadtparlament waren von 24 auf 18 Plätze verringert
worden. Auch die Warendorfer Frauen hatten sich um einen Platz auf der
Liste beworben, denn seit 1918 gab es ja endlich das aktive und passive
Frauenwahlrecht. Nun wollten die Frauen gern eine Vertreterin ins
Stadtverordnetenkollegium entsenden. Aber keiner der Stände wollte auf
seinen Sitz verzichten, so wurde den Frauen eine Absage erteilt. Doch
die Warendorfer Frauen gaben sich damit nicht zufrieden und bestanden
darauf, einen Platz auf der Liste zu bekommen. Sie wiesen sehr deutlich
darauf hin, dass ja 50 Prozent der Wähler Frauen sind.
Alles Bitten war vergebens – sie bekamen nicht einen Platz auf
der Liste..
Im neuen Emsboten schrieb Natz Gliewenkieker am 18. April in
seiner Glosse: „Das Zentrum setzte sich für die Aufstellung einer Frau
ein, konnte aber die Forderung nicht durchdrücken. Die Frauenkandidatur
fiel, aber der Zorn der Frauen stieg, er stieg höher und höher und nun
haben wir die Bescherung: In Warendorf herrscht Krieg - trotz
Friedensgesellschaft. Die Frauen haben den Männern den Krieg erklärt. Ob
angesichts solcher unheildrohender Entwicklung der ein oder andere
Ehemann doch bedenklich wird und an Goethes Ansicht denkt: Die Frauen
sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen! - Aber man wollte
keine silbernen Schalen im Rathaus haben und so können die Männer auch
keine goldenen Äpfel hineinlegen…“
Am 23. April fand im Gesellenhaus – so nannte man damals das
Kolpinghaus - eine Versammlung des Frauenbundes statt, auf der Frl.
Regierungsrat Dr. Laarmann einen sehr sachkundigen Vortrag über die
Mitarbeit der Frau in der Gemeinde hielt. Frl. Dr. Laarmann war
Dezernentin für die Wohlfahrtspflege und weibliche Jugendpflege bei der
Regierung in Münster. Sie betonte in ihrem Vortrag, dass Frauen ein
Recht auf Gleichberechtigung haben, das sie sich insbesondere durch ihre
„Kriegsarbeit“ erworben haben. Da haben sie nämlich unverdrossen neben
ihrer Arbeit im Haushalt die Arbeit der Männer mit verrichtet, in der
Landwirtschaft, in der Munitionsfabrik, in den Verwaltungen, in den
Lazaretten und wo auch immer Hilfe gebraucht wurde. Frauen sind für die
politische Mitsprache sehr wohl befähigt und können bei den oft
unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten ausgleichend und vermittelnd
wirken.
Die Frauen waren sich schnell einig, dass sie nun eigene Wege
gehen müssen, wenn die Männer ihren berechtigten Forderungen nicht
nachgeben wollen. Die Zeit drängte, denn die Wahl zum Stadtparlament war
auf den 4. Mai 1924 festgelegt, also in 11 Tagen. Nach intensiven
Diskussionen beschlossen die 60-80 anwesenden Frauen der Versammlung,
eine eigene Liste aufzustellen. So entstand am 23. April 1924 die erste
und einzige „Frauenliste“ in Warendorf.
Sieben angesehene Bürgerfrauen nahmen „das Opfer der
Kandidatur“ – so drückten sie sich aus - auf sich:
1. Frau Clara Schmidt, Landesobergerichtsratsfrau, Oststr. 39
2. Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin, Brede 13
3. Frau Theresia Kemner, Webersfrau, Petersiliengasse 2
4. Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau, Ostpromenade 6
5. Fräulein Paula Gildemeister, Telegraphen-Assistentin,
Oststr. 39
6. Frau Bäckermeister Theresia Heinermann, Kirchstraße 3
7. Frau Sparkassendirektor Gertrud Becker, Lange Kesselstraße 4
Sie wurde 1874 als Clara Gertrud Maria Willebrand als jüngstes
von sechs Kindern Oelde geboren. Ihr Vater Josef Ignatz Willebrand
(*1829) wurde 1879, als Clara 5 Jahre alt war, als Amtsgerichtsrat
Leiter des Amtsgerichts in Warendorf. Er war der Vorgänger von Wilhelm
Zuhorn, den wir ja als den Gründer des Heimatvereins gut kennen.
Amtsgerichtsrat Josef Willebrand kauft das Haus Oststraße 39, wo Clara
mit ihren Geschwistern aufwuchs. Prägend für die junge Clara war, dass
ihr Vater von 1892 bis 1908 Mitglied des Preußischen Abgeord
netenhauses
in Berlin war. So bekam sie schon früh einen Einblick in die große
Politik.
1895 heiratete Clara den damaligen Gerichtsreferendar Edmund
Schmidt, der Landesobergerichtsrat in Karlsruhe wurde. Die Ehe blieb
kinderlos, das gab Clara Schmidt den Freiraum, sich für den 1903
gegründeten Kath. Deutschen Frauenbund zu engagieren. Sie gründete 1909
den ersten Zweigverein in Karlsruhe und gehörte ab 1918 dem Reichsverein
des Frauenbundes an.
Nach
dem frühen Tod ihres Mannes Edmund zog Clara Schmidt 1920 zurück nach
Warendorf, um ihren hochbetagten Eltern zur Seite zu stehen. In ihrer
Heimatstadt wurde sie recht bald die rührige und ideenreiche Vorsitzende
des Warendorfer Kath. Frauenbundes als Nachfolgerin von Selma
Ewringmann, der Frau des Bürgermeisters Hugo Ewringmann.
Im Frauenbund wurden von Rektor Clemens Hugenroth und
Studienrat Dr. Franz Rohleder staatsbürgerliche Kurse abgehalten, um den
Frauen das nötige Rüstzeug zum politischen Denken und Handeln zu geben.
Bei den Zusammenkünften der Frauen wurden neben politischen Themen
insbesondere Mädchenschulbildung, Jugendfürsorge, Volksbildung, Kino,
Armenfürsorge und Betreuung der Wöchnerinnen diskutiert. Das neue
Wohlfahrtsgesetz brachte für die Städte viele neue Aufgaben. Und dabei
wollten die Frauen mitreden, denn, so schrieben sie in der Zeitung: „Es
gibt gewisse Dinge, wo ein Frauenzimmer schärfer sieht, als hundert
Augen der Mannspersonen!“ Dafür wollten sie eine Vertreterin ins
Stadtparlament entsenden. Da die Stände ihnen ja keinen Listenplatz
gewährten, mussten sie dafür sorgen, dass die Frauenliste Akzeptanz in
der Bevölkerung bekam.
Darum entfachten die Frauen eine rührige Propagandatätigkeit -
Wahlwerbung würde man das heute nennen. In Privatwohnungen fanden
Besprechungen und Versammlungen statt. Diejenigen Frauen, die über
genügend Zeit verfügten und redegewandt waren, gingen in den
verschiedenen Stadtteilen und in den Bauer-schaften von Haus zu Haus, um
für die sieben Kandidatinnen der „Frauenliste“ zu werben. Meistens
wurden sie freundlich aufgenommen. Vor allem die Hausfrauen brachten
ihnen viel Verständnis entgegen. Es kam aber auch vor, dass sie vom
Hausherrn angeknurrt wurden und zu hören bekamen: „Frauen gehören hinter
die Kochpötte und sollen lieber auf ihre Kinder aufpassen!“
Auch
die „Bürgerliche Verständigungsliste“ wurde sofort aktiv. Schon am
24.4., also am Tag nach der Begründung der „Frauenliste“ im Kolpinghaus,
veröffentlichten sie zusammen mit der Zentrumspartei im Neuen Emsboten
eine Erklärung, dass sie die Frauenliste nicht anerkennen,
unterschrieben von den Warendorfer Pfarrern und von hochangesehenen
Bürgern.
Ja, in ganz Warendorf wurde über die Kandidatur der Frauen
aufgeregt gestritten. In den Zeitungen war damals viel über die
Suffragetten in London und Berlin zu lesen, die für die Rechte der
Frauen auf die Straße gingen. Je näher der Wahltag rückte, umso
erhitzter entbrannte der Wahlkampf auch in Warendorf.
Der Stadtverordnetenvorsteher verkündete: „Solange ich im
Rathaus bin, kommt kein Unterrock ins Stadtparlament!“
Je eifervoller die Frauen ihre Rechte verteidigten, umso
hartnäckiger wurden die Männer. „Keine Frau soll ins Rathaus einziehen!“
Zur Bekräftigung dieses Schwurs legten drei honorige Bürger in Mimi
Temmes Gastwirtschaft am Marktplatz sogar 300 Mark unter ihre
Altbierpötte. Die sollten verwettet sein, falls auch nur ein
Frauenzimmer ins Rathaus einzieht.
Die
Kunde von den mutigen Frauen in Warendorf verbreitete sich über ganz
Deutschland. Die großen Zeitungen in Köln, Hannover und Hamburg brachten
lange Artikel mit den Schlagzeilen:
„ Amazonenschlacht in Warendorf!“
„Da werden Weiber zu Hyänen!“
„ Schmerz, lass nach!“
„ Frauen kämpfen um ihr Recht!“
Auch im Ausland machten die Warendorfer Frauen von sich reden.
Ein Londoner Blatt titelte: „Wir beglückwünschen und grüßen die
Warendorfer Suffragetten!“
Je näher die Wahl kam, umso hitziger wurde die
Auseinandersetzung. Die letzten Tage und Nächte waren so zermürbend,
dass manche der engagierten Frauen Angst vor ihrer eigenen Courage
bekam.
Flugblätter und Wahlplakate, auf denen die Frauen lächerlich
gemacht wurden, flatterten in die Häuser und wurden an Litfaßsäulen,
Mauern und Bäumen angeschlagen.
Die
Ehemänner wurden bedrängt, ihre Frauen an der Leine zu halten, was
wiederum die Frauen herausforderte, zu erklären, sie seien Manns genug,
mit ihrem Stimmzettel gegen die Männer zu kämpfen.
Spottgedichte wurden verfasst und vertont und mit
Musikbegleitung und der dicken Trommel nächtens vor den Häusern der
kandidierenden Frauen gesungen.
Am Tag vor der Wahl kämpften die Vertreter der
Verständigungsliste in der Presse mit harten Bandagen. In den
Westfälischen Nachrichten veröffentlichten sie unter dem Titel: Was gibt
es …wenn die streitbare kleine Gruppe einen Sitz im
Stadtverordneten-Kollegium bekommt? Mit semmelsüßen Redensarten werden
die Bürger eingewickelt. Die Politik wird dann in Kaffeeklatschen
fabriziert und mit Gefühl serviert werden. Gelegentlich werden auch
lyrische Gedichte vorgetragen. Solche Genüsse verderben auf die Dauer
den besten Magen, darum ist die gute, derbe Hausmannskost das Beste,…
darum wählt jeder vernünftig Denkende, Frau und Mann, nur die
„Bürgerliche Verständigungsliste“.
Oder in dem Beitrag: „Frauendämmerung“.
Warendorf steht in ganz Deutschland einzig da mit seiner
Frauenliste infolge des Vorgehens einer kleinen Gruppe sich revolutionär
gebärdender Frauen. Aber es dämmert allmählich, weil ihnen die Felle
wegschwimmen, denn der gesunde Menschenverstand der Arbeiter,
Handwerker, Landwirte, Gewerbetreibenden
und
Beamten (Männer und Frauen) betrachtet dieses eigenmächtige Vorgehen
einer kleinen Gruppe Frauen als Anmaßung und Pantoffelpolitik. Es ist
selbstverständlich und klar, daß jeder recht denkende Mensch nur die
„Bürgerliche Verständigungsliste“ wählen kann.
Ja, diese Frauen bekamen eisigen Gegenwind und brauchten
wirklich Mut!
Endlich kam der wichtige Wahltag, der 4. Mai 1924. Die
Wahlbeteiligung war überwältigend. Eine fast unerträgliche Spannung
herrschte in der ganzen Stadt. Es war in Warendorf üblich, dass sich an
Wahlabenden die interessierten Wähler im Kolpinghaus versammelten, um
die Resultate aus den Wahlbezirken telefonisch in Empfang zu nehmen. Als
unübersehbar wurde, dass die Frauenliste viele Stimmen bekommen hatte,
wurden die Gesichter der Gegner immer länger. Kreideweiß um die Nase
stellte ein Bürger fest: „Ich glaube, die kriegen wahrhaftig eine drin!“
Das Unglaubliche geschah: Die Frauenliste bekam 782 Stimmen,
das waren über 20 Prozent der Stimmen. Die ersten vier Kandidatinnen der
Frauenliste konnten ins Stadtparlament einziehen:
Frau Clara Schmidt, Vorsitzende des Kath. Frauenbundes
Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin
Frau Theresia Kemner, Webersfrau
Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau
Die Mehrheit lag nach wie vor bei der Verständigungsliste des
Zentrums mit 2406 Stimmen, das waren 12 Mandate. Die Sozialdemokraten
bekamen wieder nur 2 Mandate (481 Stimmen). Das war ein schwerer Schock
für die Ratsherren.
Am
5. Mai 1924 kommentierte der Neue Emsbote: Die Warendorfer
Stadtverordnetenwahl hat weit über Stadt und Kreis Warendorf, ja über
Westfalen hinaus, das Interesse weiter Kreise wachgerufen, und zwar
infolge der Aufstellung einer besonderen „Frauenliste“ gegenüber den
Männern. Heute kann die ganze Frauenwelt Deutschlands mit Genugtuung auf
den Erfolg ihrer Warendorfer Vorkämpferinnen hinblicken.“ Dann
allerdings meinte die Zeitung die Kurzlebigkeit der Frauenliste
prognostizieren zu können: „Die Warendorfer Männer und Frauen werden
sich bald wiederfinden, denn kein Mann in ganz Deutschland kann seine
Frau so schlecht entbehren wie der Warendorfer, wenn er hinterm
Altbierpott sitzt und seine Frau geduldig und liebevoll Haus und Hof
bewahrt.“
Auch
nach Amtsantritt in der Stadtverordnetenversammlung mussten sich die
gewählten Frauen noch manche Demütigungen gefallen lassen. So wurde in
der ersten Ratsversammlung nur kurz beraten. Dann erklärte der
Stadtverordnetenvorsteher: „Ich schließe hiermit die Versammlung und
bitte die Herren, mit mir ins Nebenzimmer zu gehen.“ Die vier Frauen
waren ausgeschlossen.
Zu Fronleichnam gab es traditionell die große Stadtprozession.
Jeder Ratsherr rechnete es sich zur Ehre an, hinter dem Allerheiligsten
gehen zu dürfen. Nun stellte sich die bange Frage: „Sollen die Frauen
bei der Prozession mit den Ratsherren gehen?“ So etwas hatte es noch nie
gegeben! „Frech genug wären die ja!“ flüsterten sich einige Bürger
hinter vorgehaltener Hand zu. Aber die gewählten Frauen ließen sich
nicht verblüffen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Ratsherrinnen zogen
ihr Schwarzseidenes an und die weißen Glacéhandschuhe und mischten sich
unter die Ratsherren. Das Aufsehen und das Getuschel waren groß! Noch
nie hatten so viele Zuschauer bei einer Prozession am Straßenrand
gestanden.
Als bei der Einführung des neuen Bürgermeisters Rudolf
Isphording und dem nachfolgenden Festessen der Oberpräsident der Provinz
Westfalen Johannes Franz Gronowski aus Münster auf die vier Damen zuging
und sich angeregt mit ihnen unterhielt und sogar eine der Damen zu Tisch
führte, gewannen die Frauen auch bei den Ratsherren an Ansehen.
Die Gemüter beruhigten sich, die Spannung ließ nach und es kam
zu einer einträchtigen und nutzbringenden Zusammenarbeit im Rathaus. Die
Stadtverordneten des Zentrums zeigten sich zugängig für die Anliegen der
Frauen, die ja alle aus einem zentrumsnahen Umfeld kamen. Bei der
nächsten Wahl 1929 war es eine Selbstverständlichkeit, dass zwei Frauen
mit auf die Wahlliste kamen, Clara Schmidt und Elisabeth Schwerbrock.
Der Kampf der mutigen Frauen war beispielhaft und machte in ganz
Deutschland Schule.
Clara Schmidt blieb Stadtverordnete bis 1933. Dann legte sie
ihr Mandat nieder, weil sie den Nationalsozialisten nicht dienen wollte.
Sie lebte bis zu ihrem Tode 1949 in Warendorf an der Oststraße 39.
2018
benannte die Stadt Warendorf auf Vorschlag des Heimatvereins eine Straße
in dem neuen Baugebiet am Friedhof „Clara-Schmidt-Straße“, um die
mutigen Frauen nicht zu vergessen.
Sufragetten in Berlin 1912
Mechtild Wolff
Quellen: Clara Schmidt: Aufzeichnungen und Zeitungsberichte
Laura Enders: Bericht über den Wahlkampf der Frauenliste,
Bilder: Zeitungsberichte und Plakate: Mechtild Wolff
Bild: Clara Schmidt, Archiv der Altstadtfreunde
Ja, es waren mutige Frauen, die 1924 mit Clara Schmidt und der
„Frauenliste“ um einen Platz in der Stadtverordnetenversammlung kämpften
und vier Mandate errangen, trotz des eisigen Gegenwindes der Männer, die
für die „Verständigungsliste“ warben. Welch ein Schock für die
politische Männerwelt, die sich noch nicht daran gewöhnen konnten, dass
seit 1918 auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht gewährt wurde.
Diese längst vergangene Zeit ließ die Heimatvereinsvorsitzende
Mechtild Wolff in der so stimmungsvollen Galerie Heinrich Friederichs
lebendig werden, ergänzt durch die Erläuterungen von Dr. Bernward
Fahlbusch zu der politisch im Preußischen Abgeordnetenhaus aktiven
Familie von Clara Schmidt.
Wie ging es weiter mit der Frauenpräsenz in der Warendorfer
Politik? Diese spannenden Entwicklungen konnten die zahlreichen Besucher
diskutieren bei Kaffee und Erdbeertörtchen und leckeren Snacks, zu der
die Hausherrin Rosemarie Friederichs gastfreundlich einlud. Ein wahrlich
gelungener Erinnerungsnachmittag an die mutigen Frauen, die 1924 das
kleine Städtchen Warendorf in ganz Deutschland und darüber hinaus
bekannt machten.
Was geschah alles damals vor 100 Jahren, als die Frauen für
ihre politischen Rechte kämpften? Das erzählt die Geschichte
„Clara Schmidt und die Frauenliste“.
Friedhofsrundgang des Heimatvereins mit Mechtild Wolff
Klönsonntag mit Mechtild Wolff
Zum Tag des offenen Denkmals:
Die Gesellschaft Harmonie in Warendorf
Heimatfest Mariä Himmelfahrt
Erlebte Geschichte: Mariä Himmelfahrt in den 1920er
Jahren von Eugenie Haunhorst
Unser engagiertes Ehrenmitglied Kurt Heinermann verstarb
im Alter von 91 Jahren
Anni Cohen und ihre Familie - von Warendorf nach Südafrika und Palästina
von Mechtild Wolff
Eduard Elsberg erbaute das erste große Kaufhaus in Warendorf
von Mechtild Wolff
Der
Elsbergplatz
von Dr. Bernward Fahlbusch
Das Fahrrad, ein wertvoller Besitz
von Eugenie Hauenhorst
Traditionelles Struwenessen an Karfreitag im Gadem am Zuckertimpen
Filmvorführung des Heimatvereins: "Als Warendorf sich wieder machte..."
Neujahrsgruß des Heimatvereins
Warendorfer Schriften Band 51/52 neu erschienen
Aus der Warendorfer Eisenbahngeschichte:
Der "Neue Bahnhof" in Warendorf von Mechtild Wolff
Aus der Warendorfer Eisenbahngeschichte:
Der "Alte Bahnhof" in Warendorf
Der Warendorfer Friedhof - Spiegel der Stadtgeschichte
Gebr. Hagedorn und Co, eine Landmaschinenfabrik mit Eisengießerei
Das Dezentrale
Stadtmuseum
ist in der Regel an Sonntagen von 15:00 - 17:00 Uhr geöffnet. Dazu
gehören das Rathaus, das Bürgerhaus Klosterstraße 7 mit den
handgedruckten Bildtapeten und das Gadem am Zuckertimpen 4
Der Eintritt ist frei.