Die
Feierlichkeiten zu Mariä-Himmelfahrt waren zu meiner
Kinderzeit der Höhepunkt des Jahres. Seit nun schon über 250
Jahren wird dieses Fest in Warendorf gefeiert.
Unser Vater erzählte uns jedes Jahr wieder die schönen
Geschichten von Gertrud, der gelähmten Tochter des Bäckers
Rolf und von der blinden Ursula, die durch die wunderbare
Hilfe der glorreichen Muttergottes von Warendorf geheilt
wurden.
Schon Wochen vor dem Fest breitete sich in der Innenstadt
eine rege Geschäftigkeit aus. Wer sein Haus neu streichen
musste, tat es so, dass es zu Mariä-Himmelfahrt in neuem
Glanz erstrahlte. Fenster wurden gestrichen, die Straßen
ausgebessert, schmutzige Ecken wurden aufgeräumt.
In
der Woche vor dem Fest holten die Aktiven der
Bogengemeinschaften die eingelagerten Triumpfbögen hervor,
überprüften und reparierten sie. Neun Bögen wurden auch
damals von den jeweiligen Nachbarschaftsgemeinschaften
aufgebaut. Dabei ging es sehr fröhlich zu, und es wurde
manches Bier und manches Schnäpschen geleert. Genau so ist
es auch heute noch!
Wir Kinder verfolgten mit großer Spannung den Aufbau der
Bögen, besonders liebten wir das Probeausleuchten. Aus
Hunderten von kleinen Löchern strömte das Gas - damals war
es noch Kokereigas aus der Warendorfer Gasanstalt. Es
erzeugte eine blaue Flamme. Mit einem „Blubb“ erstrahlte der
Bogen in hellem Flammenmeer. Wunderschön!
Am Mariä-Himmelfahrts Samstag erreichten die emsigen
Vorbereitungen ihren Höhepunkt. Die Marienstatuen wurden auf
die Bögen gestellt und mit Blumen geschmückt. Den Marktbogen
zierten nun die sechs Posaunenengel. Die meisten Bögen waren
vierständrig, sodass oben ein Boden eingebaut war, auf dem
am Abend die Musikkapelle sitzen konnte. In der ganzen
Innenstadt herrschte rege Geschäftigkeit. Die Straßen wurden
sauber gefegt, wie in einer Wohnstube. In den Schaufenstern,
Hauseingängen und Wohnungsfenstern wurden Marienaltärchen
aufgebaut und mit wunderschönen
Blumen
aus dem Garten geschmückt. Die rot-weiße Kirchenfahne wurde
herausgehängt, und an vielen Häusern standen lange Leitern
zum Anbringen der Wimpelketten. Auch bei uns zu Hause
herrschte Mariä-Himmelfahrts Trubel. Zum Festtag kamen
selbstverständlich alle Kinder nach Warendorf, auch die
auswärts Studierenden.
Am Giebelfenster unserer Wohnung in der Münsterwallschule
wurde die rot-weiße Fahne gehisst, weiß nach außen, denn es
stand ja ein kirchliches Fest bevor. Sonntag abends wurde
umgehängt, rot nach außen, für das weltliche Schützenfest.
Unser Bruder Otto war schwindelfrei, er überprüfte die Haken
in den 11 Fenstern. Der Kasten mit den roten Fackeln wurde
vom Dachboden geholt, überprüft und schadhafte Fackeln durch
neue ersetzt. Jede Fackel - erst später sagte man „Bunge“ -
bekam eine Weihnachtskerze. Die Brenndauer einer Kerze
reichte gerade für den Festbeleuchtungsabend. Elektrische
Beleuchtung für die Bungen gab es noch nicht. Die Kerzen
mussten gerade und fest in die Fackel eingepasst werden,
sonst war die Pracht von kurzer Dauer und die Fackel ging in
Flammen auf. Aber auch ein kleiner Windstoß brachte so
manche Bunge zum Abbrennen.
Wegen der Feuergefahr blieb bei uns immer ein
Familienmitglied während der Stadtbeleuchtung zu Hause, als
Brandwache sozusagen. Es gab noch keine Sommerzeit, darum
wurde es schon um halb neun dunkel. Wir Kinder nahmen unsere
Fackel in die Hand und gingen mit unseren Eltern und
Geschwistern durch die Stadt. Ich erinnere mich gut an das
Geschiebe in den Straßen. Von „weit und breit“ kamen die
Besucher nach Warendorf, es wurden sogar Sonderzüge
eingesetzt, denn wer hatte damals schon ein Auto!
In
der beleuchteten Stadt war eine zauberhafte Stimmung. Auf
jedem der neun Bögen saß eine Blaskapelle, die Marienlieder
spielte. Es war selbstverständlich, dass alle Besucher des
Festabends die Marienlieder während des Ganges durch die
Stadt mitsangen. Nach einer oder zwei Strophen hatte man den
nächsten Bogen erreicht und stimmte in das dort gespielte
Lied mit ein.
Wir bewunderten die schön gestalteten Marienaltärchen in den
Fenstern und Hauseingängen. Aus den Kirchen drang festliche
Orgelmusik. Dicht gedrängt zogen die Gläubigen in der Alten
Pfarrkirche zum Gnadenbild der wundertätigen Muttergottes.
Manchmal bekamen wir dort ein Heiligenbildchen.
Wie schön, dass diese Tradition sich fast unverändert
erhalten hat und von den Warendorfer Bürgern so liebevoll
gepflegt wird. Nur die brennend herunter fallenden Bungen
gibt es nicht mehr. Wir Kinder fanden dieses „Abfackeln“
immer ganz besonders spannend.
Am Sonntag in der Frühe um 5 Uhr begann wieder das emsige
Treiben. Die Straßen wurden gereinigt und für die Prozession
mit Fähnchen und besonders schönen Blumen geschmückt.
Unschöne Ecken wurden mit „Maien“, das sind Birkenzweige,
kaschiert. Die „Gosse“ deckte man mit großen Farnblättern
zu. Das war damals wirklich notwendig, denn durch die Gosse
lief das schmutzige Abwasser. Erst mit der
Abwasserkanalisation wurde dieser Zustand beendet. Viele
fleißige Hände errichteten die vier Segensaltäre. Wir
durften an der Neuen Kirche helfen. Dafür hatten wir am
Vortag in unserem Garten die schönsten Blumen gepflückt.
Pünktlich zum Beginn der Mariä-Himmelfahrts-Prozession war
die Stadt festlich herausgeputzt.
Beide
Pfarreien beteiligten sich schon damals an der Großen
Stadtprozession. Die Vielzahl der Geistlichen, alle in
festlichen Gewändern, hat uns immer sehr beeindruckt, dazu
die Patres aus dem Franziskanerkloster. Zu dieser Zeit gab
es noch sehr viele Patres in Warendorf. Alle trugen
Sandalen, Socken trugen sie nicht einmal im Winter. Vor
allen Häusern wehten die weiß-roten Kirchenfahnen,
Muttergottesbilder hingen in den Fenstern, und vor den
Häusern waren Altärchen mit Heiligenfiguren aufgebaut,
ausgestattet mit üppigem Blumenschmuck. Prachtvolle bunte
Blumenteppiche schmückten die Straßen.
Die Prozession wurde angeführt von den „Engelchen“ in ihren
weißen Kleidchen und dem Kränzchen auf dem Kopf, begleitet
von einer Lehrerin. Danach kamen wir Kommunionkinder in
unseren weißen Kleidern. Wir trugen stolz ein Körbchen mit
Rosenblättern und Blumenknospen. An jedem Segensaltar
streuten wir einige Blumen auf den Teppich vor dem Altar.
Das war für uns alle ein wunderschönes Erlebnis.
Uns folgten die Jungfrauenkongregation und der Mütterverein.
Vier auserwählte, „reine“ Jungfrauen durften die
wundertätige Muttergottes, mit einem prächtigen Brokatkleid
bekleidet, auf einer Sänfte durch die Reihen der Gläubigen
tragen.
Der Höhepunkt war der Baldachin, unter dem, umgeben von
einer großen Anzahl hoher Geistlichkeit, ein Priester,
manchmal sogar der Bischof, das Allerheiligste trug. Unter
Glockengeläute und lateinischen Gesängen wurde das
Allerheiligste auf den reich mit Blumen geschmückten
Straßenaltar
getragen, von dem aus ein Segen gegeben wurde. Hinter dem
Himmel mit dem Allerheiligsten gingen der Bürgermeister und
die Stadtväter, alle im Gehrock mit Zylinder und weißen
Handschuhen. 1924 waren erstmalig drei weibliche
Stadtverordnete bei der offiziellen Delegation, elegant im
Schwarzseidenen mit Glacéhandschuhen. Eine Sensation damals.
Danach folgten die Bürgerschaft und die Schulkinder. Alles
hatte seine feste Ordnung!
Der letzte Segen auf dem Markt war der Höhepunkt. Wir
erlebten in einem großen Kreis stehend den Einzug der
festlichen Prozession und den Segen. Danach zogen die
Kirchenchöre singend zur Laurentiuskirche, gefolgt von den
Gläubigen. Nach dem „Tantum Ergo“ und dem Schlusssegen in
der Kirche gingen wir unter feierlichem Glockengeläute in
gehobener Stimmung, aber redlich müde, nach Hause.
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke
wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in
einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf.
Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen
aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre
aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103
Jahren.
Bilder: Archiv der Altstadtfreunde
alle Rechte vorbehalten: Eugenie Haunhorst 2006